Besuch in Den Haag Selenskyj fordert Tribunal gegen Russland
Bei seinem Überraschungsbesuch in den Niederlanden hat der ukrainische Präsident Selenskyj die strafrechtliche Verfolgung Russlands gefordert. Als Vorbild eines Tribunals nannte er die Nürnberger Prozesse.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat wegen des Angriffskrieges gegen sein Land ein Tribunal gegen Russland gefordert. Ohne Gerechtigkeit sei kein Friede möglich, sagte Selenskyj bei seiner Rede im niederländischen Den Haag. Russland müsse für sein "Verbrechen der Aggression" zur Verantwortung gezogen werden. "Es muss eine Zuständigkeit für dieses Verbrechen geben. Das kann nur durch ein solches Gericht durchgesetzt werden."
Angesichts der russischen Invasion forderte Selenskyj eine "groß angelegte" juristische Aufarbeitung. Als Vorbild eines Tribunals nannte er die Nürnberger Prozesse gegen die deutschen Nationalsozialisten nach dem Zweiten Weltkrieg. "Ein dauerhafter Frieden ist nur möglich, wenn wir die Aggressoren auch zur Verantwortung ziehen", so der ukrainische Präsident.
Dabei verwies er auch auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin. "Natürlich hätten wir alle heute lieber einen anderen Wladimir hier in Den Haag gesehen", sagte Selenskyj, dessen Vorname die ukrainische Form von Putins Vornamen ist, zu Beginn seiner Rede.
Seit März internationaler Haftbefehl gegen Putin
Die Definition eines "Verbrechens der Aggression" wurde 2010 im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) festgelegt und umfasst auch Angriffskriege. Der IStGH hatte bereits kurz nach der russischen Invasion Ermittlungen eingeleitet und im März 2023 einen internationalen Haftbefehl gegen Putin wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen erlassen. Allerdings kann das Gericht nicht von sich aus die Vorwürfe der Aggression untersuchen, weil Russland das Rom-Statut nicht ratifiziert hat.
Selenskyj lobte in seiner Rede den Einsatz des Weltstrafgerichts mit Sitz in Den Haag. Er zeigte sich überzeugt, dass Putin tatsächlich vor das Gericht gebracht werde.
Prozess gilt derzeit als ausgeschlossen
Der IStGH hatte im März erklärt, dass Putin "mutmaßlich für das Kriegsverbrechen der rechtswidrigen Deportation von (Kindern) und die rechtswidrige Verbringung von (Kindern) aus den besetzten Gebieten der Ukraine in die Russische Föderation verantwortlich" sei.
Die Aussicht, dass Putin in Den Haag der Prozess gemacht wird, ist jedoch gering. Der russische Präsident müsste ausgeliefert werden. Der Gerichtshof verfügt über keine Polizeikräfte zur Vollstreckung von Haftbefehlen - und es ist unwahrscheinlich, dass der russische Präsident in eines der 123 IStGH-Mitgliedsländer reist, die verpflichtet wären, ihn zu verhaften.
Russland erkennt das Gericht in Den Haag nicht an. Auch die Ukraine ist zwar kein Vertragsstaat des Strafgerichtshofes, aber Kiew hat die Befugnis des Gerichts für seit 2014 auf ukrainischem Staatsgebiet verübte Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen anerkannt. 2022 wurden die ukrainischen Gesetze angepasst, damit die Ankläger aus Den Haag auf ukrainischem Staatsgebiet ermitteln können.
Rutte: Lieferung von Kampfjets "kein Tabu"
Bei seinem Besuch kam Selenskyj auch mit dem Premier der Niederlande, Mark Rutte, zusammen. Nach einem Treffen, bei dem Belgiens Regierungschef Alexander de Croo ebenfalls dabei war, bedankte sich der ukrainische Präsident für die bereits geleistete militärische Hilfe. Zugleich forderte Selenskyj weitere Waffen, Militärfahrzeuge und Kampfjets, für die ukrainische Piloten jetzt so schnell wie möglich ausgebildet werden sollen.
Rutte sagte bei einer gemeinsamen Pressekonferenz, die Lieferung von F16-Kampfjets sei "kein Tabu". Die Niederlande beraten zur Zeit mit Dänemark und Großbritannien über die Lieferung von Kampfflugzeugen an die Ukraine. Eine Einigung sei noch nicht erzielt worden, so Rutte, doch das sei eine Frage der Zeit. De Croo kündigte ein neues militärisches Hilfspaket für die Ukraine an, nannte aber keine Details.
NATO-Beitritt ebenfalls Thema
Langfristig wolle sein Land der NATO beitreten, sagte Selenskyj - wohlwissend, dass gerade die Niederlande dem sehr skeptisch gegenüberstehen. "Wir sind realistisch und wissen, dass wir während des Krieges nicht in die NATO kommen, aber während des Krieges hätten wir gerne eine klare Botschaft, dass wir der NATO nach dem Krieg beitreten können", so der ukrainische Präsident.
Selenskyj war am Vorabend überraschend in den Niederlanden eingetroffen. Es ist sein erster offizieller Besuch in dem Land. Am Morgen wurde er im Parlament empfangen. Die Niederlande haben der Ukraine bisher militärische Hilfe in Höhe von rund 1,2 Milliarden Euro für ihren Kampf gegen den Angriffskrieg Russlands geleistet.
Mit Informationen von Ludger Kazmierczak, WDR, zzt. Den Haag