Einschätzung der NATO Die Sorgen vor russischer Aggression wachsen
NATO-Chef Stoltenberg rechnet mit einer langen Konfrontation mit Russland und fordert schnellere Rüstungsinvestitionen. Der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz schließt auch den russischen Griff nach NATO-Gebiet nicht mehr aus.
Die NATO muss sich aus Sicht ihres Generalsekretärs Jens Stoltenberg auf die Möglichkeit einer jahrzehntelangen Konfrontation mit Russland vorbereiten. "Die NATO sucht keinen Krieg mit Russland", sagte Stoltenberg der "Welt am Sonntag". "Aber wir müssen uns wappnen für eine möglicherweise jahrzehntelange Konfrontation."
Putins Krieg habe gezeigt, dass Frieden in Europa keine Selbstverständlichkeit ist. "Wenn Putin in der Ukraine gewinnt, gibt es keine Garantie dafür, dass die russische Aggression sich nicht noch auf andere Länder ausbreitet", mahnte Stoltenberg.
Stoltenberg: Schnellere Aufträge nötig
Die beste Verteidigung sei jetzt, die Ukraine zu unterstützen und in die militärischen Fähigkeiten der NATO zu investieren. "Abschreckung funktioniert nur, wenn sie glaubwürdig ist", sagte er.
"Wir müssen unsere industrielle Basis schneller wiederherstellen und ausbauen, damit wir die Lieferungen an die Ukraine erhöhen und unsere eigenen Bestände wieder auffüllen können", forderte Stoltenberg. "Das bedeutet, von langsamer Produktion in Zeiten des Friedens zu schneller Produktion, wie sie in Konflikten nötig ist, zu wechseln."
Er forderte deshalb mehr und schnellere Aufträge für Europas Rüstungsunternehmen: In Marktwirtschaften bräuchten Waffenhersteller unterschriebene Verträge, damit sie ihre Produktion hochfahren, argumentierte Stoltenberg.
Russland bereitet sich auf langen Krieg vor
Die Wirtschaft und die industrielle Stärke des Westens stellten Russland bei weitem in den Schatten, sagte Stoltenberg. "Wir haben also die Mittel, Russland sowohl bei der Produktion als auch bei Investitionen zu übertreffen." Wenn dies versäumt würde, wäre Europas Sicherheit gefährdet. Der russische Präsident Wladimir Putin bereite die Wirtschaft seines Landes auf einen langen Krieg vor.
"Er hat eine Steigerung von 70 Prozent bei den russischen Militärausgaben angeordnet und hält weiter daran fest, sich Raketen aus dem Iran und aus Nordkorea zu beschaffen", sagte der NATO-Generalsekretär und fügte hinzu: "Weil Russland seine gesamte Wirtschaft auf Krieg ausrichtet, müssen wir auch mehr für unsere Sicherheit tun."
Ist auch das Baltikum bedroht?
Auch der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC), Christoph Heusgen, warnte vor weiteren russischen Angriffen. "Sollte Putin den Krieg nicht verlieren, müssen wir damit rechnen, dass er auch nach der Republik Moldau oder den baltischen Staaten greift", sagte Heusgen der "Rheinischen Post".
Er wolle nicht darüber spekulieren, was Putin wirklich wage. "Aber wir müssen alles tun, damit die Ukraine jene Waffen und Militärhilfe bekommt, die sie bräuchten, um sich gegen die russischen Aggressoren erfolgreich zu wehren und sie von ihrem Staatsgebiet wieder zu vertreiben."
Am Freitag beginnt die Münchner Sicherheitskonferenz - weder die russische noch die iranische Regierung wurden von Heusgen eingeladen.
Stelzenmüller: Europäer müssen mehr tun
Die Direktorin des "Center on the United States and Europe", Constanze Stelzenmüller, sieht in diesem Zusammenhang vor allem die Europäer am Zug. Deren Regierungen sollten beim NATO-Gipfel im Juli in Washington entschiedener auftreten, sagte sie im Interview mit dem Deutschlandfunk.
Sie sollten sich gegenüber den USA hinstellen und sagen, man habe verstanden, dass Europa mehr machen müsse. Europa sei eine gewaltigen Wirtschaftsmacht und müsse mehr für die eigene Wirtschaft und für die Sicherheit der Welt tun.
"In fünf Jahren müssen wir kriegstüchtig sein"
Aus Sicht des ranghöchsten Soldat der Bundeswehr, Generalinspekteur Carsten Breuer, muss die Bundeswehr in fünf Jahren kriegstüchtig werden. Erstmals seit Ende des Kalten Krieges werde ein möglicher Krieg von außen vorgegeben, sagte er im Interview mit der "Welt am Sonntag". "Wenn ich den Analysten folge und sehe, welches militärisches Bedrohungspotenzial von Russland ausgeht, dann heißt das für uns fünf bis acht Jahre Vorbereitungszeit."
Das heiße nicht, dass es dann Krieg geben werde - aber es sei möglich. "Und weil ich Militär bin, sage ich: In fünf Jahren müssen wir kriegstüchtig sein." Es gehe am Ende darum, sich verteidigen zu können und dadurch für einen Gegner das Risiko so hoch anzusetzen, dass er sich gegen einen Angriff entscheide.