Auflösung von Memorial "Ein sehr schlechtes Signal"
Seit mehr als 30 Jahren setzt sich die russische Organisation Memorial für politisch Verfolgte und die Aufarbeitung der Sowjetzeit ein. Das stört den Kreml. Ein Gericht beschloss nun die Auflösung, doch Memorial will sich wehren.
Keine Stunde nachdem sich das Oberste Gericht in Moskau zu Beratungen zurückgezogen hatte, verlas die Richterin das von vielen bereits erwartete Urteil: Dem Antrag der Staatsanwaltschaft werde zugestimmt, "Memorial International" liquidiert - samt seiner regionalen Abteilungen und anderer struktureller Ableger. Nicht einmal zwei Minuten dauerte die Urteilsverkündung.
"Sehr traurig, sehr deprimierend"
Für Memorial-Anwältin Marija Ejsmont war es das vorhersehbare Finale des Prozesses. "Es ist sehr traurig, sehr deprimierend, was heute passiert ist", sagte sie. "Mit dem heutigen Tag wird eine Organisation aufgelöst, die seit Jahrzehnten Menschen ihre Namen zurück gibt, ihre Würde. Menschen, die getötet, vernichtet und vom eigenen Staat verraten wurden. Ihre Schicksale holt Memorial aus den Archiven, ihre Namen werden vorgelesen. Eine solche Organisation aufzulösen, ist natürlich ein sehr schlechtes Signal."
Ähnlich sehen es die 50 Unterstützerinnen und Unterstützer, die sich am Vormittag vor dem Gerichtsgebäude versammelt haben. Memorial sei die einzige Organisation gewesen, an die sie sich habe wenden könne, erklärt Iraida Sergejewna: "Ich wollte erfahren, was meinen Verwandten vor langer Zeit zugestoßen ist, und nur Memorial hat mir geholfen, niemand anderes - egal, wo ich gefragt habe."
Vorwurf: Unterstützung aus dem Ausland
Seit nunmehr drei Jahrzehnten beschäftigt sich Memorial mit der Aufarbeitung der Sowjetzeit und vor allem des stalinistischen Terrors und gilt damit als eine der renommiertesten und ältesten Menschenrechtsorganisationen Russlands.
In seinem Plädoyer warf Generalstaatsanwalt Alexej Zhjafarow Memorial aber vor, durch eben diese Tätigkeit ein falsches Bild der Sowjetunion zu zeichnen und die Siegernation des Zweiten Weltkriegs dazu zwingen zu wollen, sich für seine Geschichte zu schämen. "Das liegt daran, dass jemand dafür bezahlt - und das ist der wahre Grund, warum Memorial so hart dagegen kämpft, sich offen als ausländischer Agent zu bezeichnen."
Denn darum ging es in der Anklage eigentlich: Weil Memorial Geld aus dem Ausland erhält - unter anderem von Stiftungen und Forschungsinstituten - wurde es 2016 in das Register der "Ausländischen Agenten" aufgenommen. Ein Status, über den die Organisation in jeder ihrer Publikationen informieren muss - auch rückwirkend.
Memorial will in Berufung gehen
Dass dies an einigen Stellen versäumt wurde, räumen auch die Mitarbeiter von Memorial ein. Dass es aber der Grund für die Schließung der Organisation sein soll, sage vor allem etwas über den Zustand des russischen Rechtstaates aus, bemängeln Kritiker, wie der Oppositionspolitiker Grigorij Jawlinskij.
"Das ist eine absolut politische Entscheidung", sagt Jawlinskij. "Die Beseitigung von Gegnern, der Opposition, all jener, die versuchen, das Ansehen Russlands zu stärken, indem sie seine Geschichte erklären. Ich glaube, dass dies ein entscheidender Schritt ist auf dem Weg vom heutigen autoritären Regime zu einen modernen totalitären."
Noch wollen die Mitglieder und Unterstützer von Memorial nicht aufgeben. Man werde in Berufung gehen und alle rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen, erklärte Anwalt Genri Resnik. Dazu gehöre auch eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.