Frankreichs Osteuropapolitik Macrons Kurswechsel
Bislang galt die Beziehung Frankreichs zu Ost- und Mitteleuropa als unterkühlt. Doch ob zu EU-Erweiterung, Unterstützung der Ukraine oder Russland-Politik - Macron schlägt plötzlich ganz neue Töne an.
Die Szene war typisch dafür, wie Frankreich seine Bedeutung auf internationalem Parkett immer noch definiert. Als die französische Außenministerin Catherine Colonna in Oslo beim NATO-Treffen ankam und den wartenden Journalisten Frankreichs Verhandlungsziele erklärte, stellte sie eine Kontrollfrage: "Sie haben gestern sicher alle die Rede des Präsidenten der Republik gehört?"
Die Ministerin erwartete keine Antwort, die Kenntnis der Rede des französischen Präsidenten Emmanuel Macron erschien ihr selbstverständlich. Dass die in Oslo versammelte internationale Journalistenschar gerade ganz andere Themen auf der Agenda hatte - schwer vorstellbar für die Chefdiplomatin aus Paris.
EU-Erweiterung "so schnell wie möglich"
Tatsächlich hatte Macron am Vortag in Bratislava einige ganz neue Akzente in seiner Außenpolitik gesetzt: In Frankreichs Osteuropapolitik geht es um einen Kurswechsel. Der Ort war nicht zufällig gewählt. Im Publikum in Bratislava saßen im Rahmen der Sicherheitstagung des GLOBSEC-Forums Regierungschefs und Außenminister fast aller ostmitteleuropäischen Länder.
Neue Töne gab es vor allem zur umstrittenen nächsten Erweiterungsrunde der EU. "So schnell wie möglich" solle sie kommen, forderte Macron zum Erstaunen seiner Zuhörer. Denn vor nicht allzu langer Zeit, Ende 2019, war er es gewesen, der Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien blockierte. Und eine Grundsatzreform mit verschärften Bedingungen für weitere Beitrittsrunden verlangte.
Jetzt gibt Macron eine andere Marschroute vor. Die EU dürfe keine Zeit mehr in ihrem Erweiterungsprozess verlieren: "Hoffnung zu schenken und auf Zeit zu spielen, wäre ein gewaltiger Fehler!" Die Gründe für den Strategiewechsel ließ der französische Präsident nicht im Dunkeln. Wenn die Länder des Westbalkans weiter hingehalten werden, so seine Sorge, werden sie sich möglicherweise enttäuscht von den Europäern abwenden und Unterstützung in Moskau oder Peking suchen.
"Konkrete Sicherheitsgarantien" für die Ukraine
Die Wünsche des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj nach schnellen Beitrittsverhandlungen hatte Macron vor einem Jahr noch relativ unsentimental zurückgewiesen, als Gastgeber des EU-Gipfels auf Schloss Versailles. Das sei keine Frage von Jahren, sondern von Jahrzehnten, bevor man mit einer Aufnahme der Ukraine in die EU rechnen könne, so Macron. Ein Land mitten im Krieg könne kein Thema für Beitrittsgespräche sein.
Auch wenn beim nächsten NATO-Gipfel in Litauen noch kein Beitritt beschlossen werden könne, sagt Macron jetzt, müsse die NATO der Ukraine doch "starke und konkrete Sicherheitsgarantien" zusagen. Diese Forderung aus der Rede wiederholte Macrons Außenministerin dann beim NATO-Treffen in Oslo fast wortgleich.
Neue Töne Richtung Ukraine
Ob sich die neue Linie nun auch ganz konkret auf die französische Militärhilfe für das von Russland überfallene Land auswirken wird, bleibt eine spannende Frage. Bisher rangierte Paris da weit hinter anderen Europäern wie Großbritannien, Deutschland, den Niederlanden, Polen und Norwegen. Zählt man Waffenlieferungen, humanitäre und finanzielle Hilfen zusammen, kommt aus Frankreich für die Ukraine weniger als ein Fünftel der deutschen Hilfen.
Aus Sicht der französischen Tageszeitung "Le Monde" gehören die Sicherheitsgarantien trotzdem zu den zentralen Aussagen aus Macrons Rede in Bratislava - auch, wenn aktuell noch nicht klar ist, wie genau diese Sicherheitsgarantien aussehen sollen. Und welche Länder sich daran beteiligen würden.
Anbindung der Länder westlich von Russland
Auch nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine hatte Macron noch lange an der Idee einer europäischen Sicherheitsarchitektur festgehalten, die Russland konstruktiv mit einbezieht. Solche Formulierungen enthält die Bratislava-Rede nicht mehr, Russland ist der Aggressor und von Putin aus der Staatengemeinschaft katapultiert worden.
Der Krieg hat auch Macrons Blick auf Osteuropa grundlegend verändert, später vielleicht, als das in anderen EU-Hauptstädten der Fall war, aber umso grundsätzlicher. Die Anbindung der Länder westlich von Russland an die EU, zumindest über einen speziellen Zugang zum Binnenmarkt, all das ist für Frankreichs Präsident zu einer geopolitischen Notwendigkeit geworden. "Wir brauchen eine geopolitische Einheit, müssen den westlichen Balkan, Moldawien und die Ukraine in diesem Europa verankern."
Macron thematisiert belastete Beziehungen zu Osteuropa
Dabei weiß Macron, wie tief der Ärger bei einigen Osteuropäern innerhalb der EU über Frankreich immer noch sitzt, 20 Jahre nach einer legendären Gemeinheit seines Vorgängers Jacques Chirac. "Sie sind entweder schlecht erzogen oder haben keine Ahnung von der Gefahr, wenn sie sich auf die Seite Amerikas schlagen", hatte Chirac Polen, Balten, Tschechen und Ungarn entgegengeschleudert, als sie mit dem damaligen US-Präsidenten George W. Bush in den Irak-Krieg zogen.
Als die so Blamierten sich wehrten, legte Chirac nach. "Sie haben eine Gelegenheit verpasst, zu schweigen." Kaum eine Analyse der manchmal schwierigen Beziehungen zwischen Paris und den Osteuropäern kommt seitdem ohne Chiracs Attacken aus.
Macron ging darauf in Bratislava ein. "Wir haben manchmal eine Gelegenheit verpasst, zuzuhören." Frankreich sei nicht selten als arrogant wahrgenommen worden, als ein Land, das sich nicht für Osteuropa interessiert. Das sei jetzt anders, versprach er den Spitzenpolitikern der Region im Publikum: "Sie können sich auf Frankreich verlassen."
Plötzlich Dank an Amerika
Mit gespitzten Ohren dürfte man auch in Washington zugehört haben, wie viel Lob der französische Präsident dieses Mal für die Biden-Administration fand. Vor zwei Monaten hatte Macron beim Besuch in China noch für einen Eklat mit dem Vorschlag gesorgt, die Europäer sollten in der Taiwan-Frage keine Mitläufer der Amerikaner sein.
Jetzt dankte er in seiner Rede gleich mehrmals für die amerikanische Unterstützung für die Ukraine, das garantiere die Sicherheit Europas.
Wahrnehmung in Frankreich
In der französischen Öffentlichkeit wird die Rede des Präsidenten insgesamt weniger hoch gehängt. Das kommunikative Ziel seines Auftritts beim GLOBSEC-Treffen in Bratislava war zuvor aus Élysée-Kreisen klar beschrieben worden: Macron werde über die strategische Bedeutung Osteuropas sprechen und einmal mehr für seine Idee der europäischen Souveränität Pflöcke einschlagen.
Den Aspekt der Selbstkritik griffen die französische Tageszeitungen "Le Figaro" und "Libération" auf. Schluss mit der französischen Arroganz, die den osteuropäischen Ländern oft und über lange Zeit bitter aufgestoßen war, beschreibt es "Le Figaro".
Mehr noch: Für Macron - der vor rund einem Jahr noch gemahnt hatte, ein wie auch immer geartetes Ende des Krieges dürfe Russland nicht "demütigen" - sei es darum gegangen, Frankreichs Unterstützung für die Ukraine deutlich zu machen, langfristig, umfassend und vor allem ohne jeden Platz für Zweifel, so die Analyse von "Libération".
Vor den wichtigen Treffen der kommenden Monate - dem Europäischen Rat Ende Juni und dem NATO-Gipfel im Juli - hat Macron in Bratislava offenbar nicht nur inhaltlich liefern, sondern auch das Tempo vorgeben wollen.