Nächtlicher Luftalarm in Kiew "Wir versuchen, ein normales Leben zu führen"
Die Sirenen in der ukrainischen Hauptstadt Kiew heulen seit einigen Wochen vor allem nachts wieder häufiger. Das hat für die Menschen Folgen - psychische und physische.
Ein gewöhnlicher Nachmittag in Kiew. Auf einem zentralen Platz schlendern zahlreiche Menschen umher, als aus dem Nichts Luftalarm ertönt. Die meisten suchen keinen nächstgelegenen Schutzraum auf, so als ob sie ahnen, dass der Alarm dieses Mal kurze Zeit später wieder aufgehoben wird.
Seit mehreren Wochen heulen in der ukrainischen Hauptstadt die Sirenen wieder häufiger - besonders nachts. Speziell im Mai folgte darauf teilweise massiver Raketen- oder Drohnenbeschuss. Im Juni hat zumindest der Beschuss etwas nachgelassen.
Schutzräume teils weit weg
Einwohnerin Sasha verzichtet darauf, in Schutzräume zu gehen: "Ich gehe damit normal um, es belastet mich nicht sonderlich. Ich habe Mitleid mit denen, die dauernd von Beschuss betroffen sind und für nichts sterben."
Der nächste stabile Schutzraum - eine U-Bahn-Station - sei für sie ohnehin weit weg, meint Sasha. So gelassen wie sie gehen in Kiew einige, aber nicht alle mit der Raketengefahr um.
"Der Alarm wirkt sich auf den Schlaf aus"
Svetlana erzählt, dass ihre achtjährige Enkeltochter oft beruhigt werden muss. Sie selbst geht bei Luftalarm pragmatisch vor - spürt aber auch die physischen Folgen der nächtlichen Attacken.
"Derzeit bleibe ich in der Wohnung und achte darauf, dass ich von mehreren Wänden geschützt werde. Der Alarm wirkt sich sehr auf den Schlaf aus. Manchmal ist der Körper so müde, dass er einfach abschaltet und man trotz Alarm durchschläft. Das ist natürlich nicht gut."
Ähnlich formuliert es Viktor. Auch er fühle sich momentan oft müde, sagt er. Psychisch komme er mit den Sirenen klar. Er beobachte aber auch, dass andere weniger gut damit umgehen können.
"Am Anfang haben meine Frau und meine Schwester Beruhigungsmittel genommen. Ich komme damit besser zurecht. Besonders schwer ist es für die, die geflüchtet sind und zurückkommen. Eine Bekannte von mir war seit dem zweiten Kriegstag nicht mehr hier. Im Sommer kam sie zurück, hörte einen Alarm, bekam eine Panikattacke und ging wieder nach Portugal", erzählt er.
"Man möchte eigentlich schöne Dinge tun"
Zurück in Kiew ist auch Anastasija. Sie lebt schon länger in Berlin - zum ersten Mal seit Beginn der Invasion besucht sie ihre Familie. Der jüngste nächtliche Luftalarm hat ihr zugesetzt.
"Ich habe fast alles und besonders Russland verflucht. Es ist verrückt. Es ist Sommer, man möchte eigentlich schöne Dinge tun. Bei Alarm bleiben wir zusammen und reden viel miteinander. Und wir versuchen, weiter ein normales Leben zu führen."
Langfristige Folgen drohen
Dass durch die nächtlichen Luftangriffe auf Kiew - neben der unmittelbaren Gefahr durch Raketen oder deren herabfallende Trümmerteile - langfristige gesundheitliche Folgen drohen, kann Olexander Balitskyy bestätigen. Der Neurologe empfängt immer mehr Patienten.
Chronische Müdigkeit sei nicht zu unterschätzen, so Balitskyy. "Das Nervensystem wird beschädigt, denn die Psyche ist Teil davon. Es gibt die Gefahr der Schlaflosigkeit, was Risiken fürs Gehirn mit sich bringt. Das soll sich nachts eigentlich erholen. Wenn dies nicht so ist, können chronische Krankheiten entstehen."
Mediziner empfiehlt feste Abläufe
Dazu gehören Bluthochdruck und Diabetes sowie psychische Erkrankungen. Luftalarm sei eine Stresssituation, so der Mediziner. Um mit ihr kurzfristig umzugehen, empfiehlt Balitskyy Aromatherapie. Das sei eine schnelle und effektive Maßnahme. "Bestimmte Gerüche stimulieren das Gehirn und haben eine beruhigende Wirkung. Das gilt auch für Farben - für Grün."
Hilfreich sei es außerdem, feste Abläufe für Luftalarm festzulegen, und sich daran zu halten. Ignorieren sollte man die Sirenen aus Sicht des Mediziners - besonders, wenn Beschuss regelmäßig stattfindet - besser nicht.
Sorge um Familie
An Schlafmangel wird Anastasija, die in Kiew zu Besuch ist, vermutlich nicht leiden, wenn sie wieder nach Berlin fährt. Doch sie sorgt sich um ihre Familie - und hofft, dass in Deutschland die Aufmerksamkeit für die Lage in ihrem Land nicht nachlässt.
"Dort ist es ein ganz anderes Leben. Man sieht den Krieg im Fernsehen, aber er ist weit weg. Aus der Ferne wird man nie verstehen, wie es ist, Sirenen und Beschuss zu hören - und Gott dafür zu danken, dass man am Leben ist."