Nordosten Syriens Angst vor einem Comeback des IS
Im Nordosten Syriens fürchten viele Menschen ein großangelegtes Comeback des IS. Angst machen ihnen nicht nur die vielen neuen Attentate der Terrormiliz, sondern auch eine "tickende Zeitbombe" ganz anderer Art.
Das Camp Al-Hol ist ein beklemmender Ort im Nordosten Syriens. Staub weht umher, der Gestank von Abwasser liegt in der Luft. Komplett schwarz verschleierte Frauen huschen wie Schatten zwischen den weißen Zeltplanen umher, Jugendliche schmeißen Steine und machen Kopf-ab-Gesten in Richtung von Besuchern, die sich ihnen aus Sicherheitsgründen nur in gepanzerten Fahrzeugen oder zu Fuß an der Seite schwerbewaffneter Soldaten nähern.
Das unübersichtliche Areal ist umgeben von Stacheldraht und Zäunen, die allerdings alles andere als unüberwindbar sind. Tag und Nacht würden Waffen, aber auch Menschen raus- und reingeschmuggelt, heißt es. "Es ist ein sehr gefährlicher Ort", sagt Jihan Hanan, die für die kurdischen Behörden der Region das Camp verwaltet. "Wir wünschten, wir könnten für mehr Sicherheit sorgen", sagt sie. Aber leider herrsche drinnen "immer noch der IS".
Flüchtlingscamp, Internierungslager und Terroristen-Unterschlupf
Al-Hol, das ist eine fragwürdige Mischung aus Flüchtlingscamp, Internierungslager und Terroristen-Unterschlupf. Vor allem aber ist es eine Erinnerung daran, dass der sogenannte Islamische Staat in Syrien seit 2019 zwar in der Fläche militärisch besiegt ist, aber weiterhin auf viele seine Anhänger eine große Anziehungskraft ausübt.
Mehr als fünfzigtausend Menschen leben in Al-Hol, in erster Linie Kinder und Frauen von IS-Kämpfern, die wiederum in überfüllten Gefängnissen in der Nähe inhaftiert sind. Die Familien kommen aus Dutzenden Nationen, vor allem aus Syrien und dem Irak, aber viele auch aus Zentralasien und Europa.
Einige Staaten haben damit begonnen, zumindest einige ihrer Staatsbürger, bisher fast ausschließlich Frauen und ihre Kinder, aus Syrien zurückzuholen.
Trotzdem platzen Orte wie Al-Hol weiter aus allen Nähten. "Wir hoffen auf viel mehr Unterstützung der internationalen Gemeinschaft", sagt Campdirektorin Hanan.
"Die Frauen im Camp Al-Hol kriegen Kinder, um sie später zu Kämpfern zu machen", sagt ein kurdischer Kommandeur.
Fortpflanzung als Heiliger Krieg?
Etwa sechzig Geburten pro Monat soll es allein in al-Hol geben. Fortpflanzung als Heiliger Krieg? Besonders überzeugte Islamistinnen würden ihre erst vierzehn oder fünfzehn Jahre alten Söhne dazu drängen, andere Frauen zu heiraten und zu schwängern, berichten mehrere Quellen übereinstimmend.
"Die Frauen kriegen Kinder, um sie später zu Kämpfern zu machen", sagt ein kurdischer Kommandeur. Von klein auf würde der Nachwuchs indoktriniert und radikalisiert. Zehntausende Kinder ohne Chance auf Schulbildung gebe es bereits. Man habe die Befürchtung, dass da eine Generation heranwachse, die nichts anderes lerne als die Weltsicht einer islamistischen Terrororganisation. "Das ist eine tickende Zeitbombe."
Einige der Kinder, die ausländische Kämpfer einst mitbrachten, als sie aus aller Welt nach Syrien kamen, um sich dem IS anzuschließen, sind bereits jetzt an der Grenze zur Volljährigkeit. Einige von ihnen gelten als besonders gefährlich, sind an Anschlägen beteiligt, die in diesen Wochen einmal mehr die Menschen im Nordosten Syriens, aber auch anderen Landesteilen, in Angst und Schrecken versetzen.
Mehr Aktivität des IS seit dem Erdbeben
"Sie verminen die Gegend, klopfen an den Türen von Häusern und schießen Menschen dann mit Schalldämpferpistolen in den Kopf", sagt Shaheen Derik, der selbst als Soldat gegen den IS kämpft. Seit dem Erdbeben vor einem Monat hätten die Aktivitäten der Terroristen in ganz Syrien noch einmal massiv zugenommen, beobachten Experten.
"Die Zellen nutzen jede Chance, jede Phase des Chaos, um loszuschlagen", sagt Siyamend Ali, Pressesprecher der Syrian Democratic Forces, SDF. Das ist der militärische Arm der Regierung des kurdischen Autonomiegebiets im Nordosten Syriens.
Zusammen mit internationalen Partnern, vor allem der US-Armee, führen die SDF regelmäßig Razzien und Spezialoperationen gegen den IS durch, haben aber auch die große Sorge, den wiedererstarkten Islamisten nicht genug entgegensetzen zu können.
Gefahr eines Comebacks ist groß
Sollte in den nächsten Monaten dann auch noch der Konflikt mit der Türkei weiter eskalieren und es gar eine erneute türkische Bodenoffensive gegen Syriens Kurden geben, laufe man Gefahr, den Kampf gegen die Terrormiliz vollends zu vernachlässigen, weil man sich auf die militärische Verteidigung der eigenen Grenze konzentrieren müsse, warnen SDF-Kommandeure unisono.
Sollte es dann noch Gefängnisausbrüche geben und die Situation in Lagern wie Al-Hol vollends außer Kontrolle geraten, stünde einem großen Comeback des IS kaum noch etwas im Wege. Ein Horrorszenario im weltweiten Kampf gegen islamistischen Terror.