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Interview

Selenskyj-Berater Schowkwa "Der einzige Ausweg: Keine Angst zu haben"

Stand: 13.10.2022 13:03 Uhr

Russland attackiere in der Ukraine gezielt zivile Infrastruktur, sagt Selenskyj-Berater Ihor Schowkwa: Moskau wolle, "dass wir im Winter frieren". Er erklärt, für wie entscheidend er Raketenabwehrsysteme wie IRIS-T hält.

ARD: Herr Schowkwa, Sie wurden in Kiew geboren. Wie haben Sie Anfang der Woche die erneuten russischen Raketenangriffe mitten auf das Zentrum der Hauptstadt erlebt?

Ihor Schowkwa:  Das war ein ziemlich massiver und brutaler Angriff, bei dem leider mehrere Menschen getötet und Dutzende verletzt worden sind. Russland hat versucht Chaos in der ukrainischen Hauptstadt anzurichten, Panik auszulösen. Aber sie sind mit ihren Zielen gescheitert.

Ihor Schowkwa
Zur Person
Ihor Schowkwa ist seit 2019 stellvertretender Leiter des ukrainischen Präsidialamts. Der studierte Diplomat ist für die außenpolitische Strategie von Präsident Wolodymyr Selenskyj verantwortlich.

ARD: Und dennoch ist aktuell eine andere Atmosphäre in der Stadt zu spüren. Menschen gehen wieder häufiger in die Schutzbunker, sie haben Angst. Wie gehen Sie damit politisch um? 

Schowkwa: Wenn jemand Angst erzeugt, ist der einzige Ausweg, keine Angst zu haben und mutig zu sein. Genau das zeigen die Ukrainer an jedem Tag dieses Krieges. Das ist es, was Präsident Selenskyj zeigt und was er von den Staatschefs und Menschen aller zivilisierten Länder der Welt fordert. Sie sollten keine Angst vor dem Aggressor haben, keine Angst vor möglichen Plänen, die er hat. Es geht vielmehr darum zu verhindern, was er möglicherweise vorhat und darum, gemeinsam zu reagieren.

Ihor Schowkwa, Stellvertreter des ukrainischen Präsidialbürochefs Andrij Jermak, im Gespräch mit Vassili Golod, ARD Kiew

"Sie wollen, dass wir im Winter frieren"

ARD: Russische Politiker haben Angriffe auf die Krim-Brücke wiederholt als "rote Linie" bezeichnet und begründen damit auch die aktuellen massiven Angriffe. Was sagen Sie zu dieser Reaktion?

Schowkwa: Ich hasse es, diese Narrative oder "rote Linien" oder Ultimaten oder ähnliches zu kommentieren. Es ist nicht das erste Mal und leider nicht das letzte Mal. Russland greift zivile Infrastruktur an, weil Erfolge auf dem Schlachtfeld ausbleiben. Weil ihnen keine entscheidenden Erfolge gegen die ukrainischen Streitkräfte gelingen. Sie wenden die Taktik an, gegen Zivilisten zu kämpfen, Männer und Frauen, Kinder. Sie kämpfen gegen Kindergärten, Schulen, Museen, Universitäten, das Bildungsministerium. Ich weiß, dass das eines der letzten Ziele am Montag war. Gegen Krankenhäuser, Geburtskliniken. Wenn das als Erfolg der sogenannten zweitstärksten Armee der Welt gilt, wo sind wir dann angekommen?

ARD: Obwohl die Offensive der Ukraine andauert und obwohl die Menschen mutig sind, machen die flächendeckenden Angriffe vielen Angst. Zivilisten werden getötet. Was tut die ukrainische Regierung, um das zu verhindern?

Schowkwa: Das ist ein ebenfalls Teil der russischen Taktik. Wenn wir erfolgreich an der Front sind, im Osten der Ukraine, im Süden der Ukraine, im Donbas, dann versuchen sie mitten in die Ukraine zu treffen. Sie versuchen die Lieferketten zu treffen - kritische Infrastruktur, Energie-Infrastruktur. Wie wir darauf reagieren? Wir reparieren diese Schäden sofort.

Als alleine am Montag Dutzende Objekte kritischer Infrastruktur getroffen wurden, wurde noch am gleichen Tag in fast allen Regionen der Ukraine die Stromversorgung wiederhergestellt. Ja, sie führen zunehmend Angriffe aus, weil der Winter naht. Sie wollen, dass wir im Winter frieren.

Bedarf an Mittel- und Langstreckensystemen

ARD: Die G7-Staaten verurteilen die russischen Angriffe und sichern der Ukraine weitere Unterstützung zu. Reicht das aus Ihrer Sicht aus? Deutschland hat beispielsweise das Flugabwehr-System IRIS-T geliefert.

Schowkwa: Wir brauchen definitiv mehr. Und wir danken der Bundesregierung, dass sie uns zusichert, weitere IRIS-T-Systeme zu liefern. Es ist wichtig zu verstehen, dass das ein System mit kürzerer Reichweite ist. Wir brauchen außerdem Mittel- und Langstreckensysteme, damit wir einen breiteren Radius haben; eine breitere Möglichkeit, Raketen abzufangen, die auf das Staatsgebiet der Ukraine fliegen.

Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Über den Montag hinweg hat Russland insgesamt 84 ballistische Raketen abgefeuert. Fast 50 von ihnen wurden von den bestehenden Systemen abgefangen. Stellen Sie sich vor, wir hätten hoch entwickelte Systeme mit mittlerer, langer Reichweite - damit hätten wir wahrscheinlich 100 Prozent dieser ballistischen Raketen abfangen können.

ARD: Russland zerstört kritische Infrastruktur. Wir haben mit Menschen in verschiedenen Städten gesprochen, die zwischenzeitlich ohne Strom auskommen mussten. Wie kritisch ist die Situation und wie groß sind die Herausforderungen?

Schowkwa: Sie ist sehr kritisch. Was die Stromversorgung angeht, wurde es schon kritisch, als die russischen Soldaten rechtswidrig das Atomkraftwerk Saporischschja besetzt haben - insgesamt sechs Reaktoren. Dieses Kernkraftwerk war für etwa 30 Prozent des ukrainischen Energiehaushalts verantwortlich. Und ja, sie haben auch Wärmekraftwerke getroffen, absichtlich, in verschiedenen Regionen der Ukraine - Lwiw, Kiew, Dnipro, Odessa - um uns von der Elektrizitätsversorgung abzuschneiden. Und es ist klar, wie wichtig die Stromversorgung gerade in der Winterzeit ist.

"Rational Denkender würde das nicht tun"

ARD: Es besteht zudem die Gefahr, dass Belarus aktiv in das Kriegsgeschehen eingreifen könnte. Wie bewerten Sie das, wie gehen Sie damit um? 

Schowkwa: Nach allen logischen Argumenten sollte Präsident Lukaschenko das nicht tun, weil es das schlechtestmögliche Szenario für ihn wäre. Aber Russland nutzt ja schon jetzt das Staatsgebiet von Belarus, um die Ukraine anzugreifen. Einige Raketen kommen von Flugzeugen, die auf Flugplätzen in Belarus stationiert sind. Ein rational denkender Mensch würde das nicht tun. Aber wir sind vorbereitet.

ARD: Was heißt das konkret?

Schowkwa: Wir haben unsere Grenzkontrollen und Streitkräfte, die bereit sind, allen möglichen Attacken standzuhalten.

ARD: Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine dauert inzwischen seit mehr als sieben Monaten an. Unter Diplomaten heißt es: Jeder Krieg endet mit einer diplomatischen Einigung.

Schowkwa: Definitiv. Jeder Krieg endet am Verhandlungstisch. Aber in unserem Fall wird der Krieg mit dem Sieg der Ukraine enden. Und deshalb gefallen mir die Positionen unserer Partner. Nahezu alle Staatschefs der Länder, mit denen ich spreche, sehen sehr klar: Nur die Ukraine wird die Art des Sieges bestimmen.

Was "Sieg" aus Sicht der Ukraine bedeutet? Wie er erreicht werden sollte? Das ist sehr einfach. Mit der Unterstützung unserer Partner, mit Waffenlieferungen, mit der Einführung weiterer Sanktionen und mit finanzieller Unterstützung. Wenn wir gewonnen haben, werden wir sehen. Aktuell können Friedensverhandlungen nur auf dem Schlachtfeld geführt werden.

Das Gespräch führte Vassili Golod, WDR, zzt. Kiew

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 13. Oktober 2022 um 12:40 Uhr.