Getreideabkommen ausgelaufen Wie die Ukraine ihre Agrarexporte fortsetzen will
Kann die Ukraine nach dem Auslaufen des Abkommens weiter Getreide auf dem Seeweg exportieren? Präsident Selenskyj will es jedenfalls, auch ohne Sicherheitsgarantien. Doch wie Russland darauf reagieren wird, ist unklar.
Nach dem Auslaufen des Getreideabkommens ist die Zukunft von Agrarexporten der Ukraine auf dem Seeweg über das Schwarze Meer unklar. Die von den Vereinten Nationen und der Türkei vermittelte Vereinbarung endete nach knapp einem Jahr am späten Montagabend offiziell, weil Moskau eine Verlängerung ablehnte.
Ungeachtet der fehlenden Sicherheitsgarantien will die Ukraine nach Aussage ihres Präsidenten weiter Getreide über das Meer exportieren. "Auch ohne die Russische Föderation muss alles dafür getan werden, dass wir diesen Schwarzmeerkorridor weiter nutzen können", sagte Wolodymyr Selenskyj.
Die Ukraine, die UN und die Türkei könnten gemeinsam den Betrieb des Lebensmittelkorridors und die Kontrolle der Schiffe sicherstellen, erklärte Selenskyj in seiner abendlichen Videobotschaft. "Wir sind von Unternehmen angesprochen worden, die Schiffe besitzen. Sie haben gesagt, dass sie bereit sind, die Transporte fortzusetzen", fügte er hinzu.
Russland pocht auf Erfüllung von Zusagen
Ob und wie die Schiffe ohne eine Übereinkunft mit Russland den Schwarzmeerkorridor sicher passieren können, ist nun allerdings unklar. Nach Kriegsbeginn hatte Russland die Ausfuhren der Ukraine blockiert. Das 2022 ausgehandelte Abkommen hatte den Schiffen dann aber bis gestern den Weg über einen 310 Seemeilen langen und drei Seemeilen breiten Korridor ermöglicht.
Russland selbst wurde wegen des Krieges mit weitreichenden Handelsbeschränkungen belegt. Der Kreml fordert die Erfüllung der eigenen Bedingungen, wonach man die Abmachung "sofort" wieder aufleben lassen würde, wie Sprecher Dmitri Peskow betonte. Im Kern geht es dabei um Sanktionen, die aus russischer Sicht verhindern, dass Zahlungen für russische Agrarexporte abgewickelt werden können. Wie die Probleme mit der Zulassung von russischem Getreide und Dünger auf den Weltmarkt gelöst werden könnten, ist jedoch ebenfalls unklar.
Zudem ist zu befürchten, dass Russland wegen der jüngsten Zerstörung seiner Krim-Brücke militärische Vergeltung suchen könnte - dies drohte Präsident Wladimir Putin jedenfalls an, ohne konkret zu werden. Auch wenn nach offiziellen Aussagen die Ablehnung einer Verlängerung des Abkommens nichts mit dem Angriff auf die Brücke zu tun gehabt habe, ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass sich die russische Antwort darauf auf den ukrainischen Handelsweg konzentriert.
Russland könnte die drei ukrainischen Häfen wie zu Anfang des Krieges blockieren. Ausländische Frachter könnten die Häfen, die unter ukrainischer Kontrolle sind, theoretisch auch ohne Russlands Zustimmung anfahren - gingen aber das Risiko ein, von russischer Seite beschossen zu werden.
In der Nacht sind die ukrainischen Hafenstädte Odessa und Mykolajiw jedenfalls Ziel russischer Angriffe geworden. Die Luftabwehr habe sechs russische Marschflugkörper abgeschossen, erklärte das Südkommando der ukrainischen Streitkräfte. Allerdings seien in Odessa "Einrichtungen der Hafeninfrastruktur" und "mehrere Wohnhäuser" von Raketentrümmern und der beim Abschuss entstandenen Druckwelle beschädigt worden.
Erdogan will mit Putin reden
Auf diplomatischer Ebene laufen international Bemühungen, Russland zu einer Reaktivierung des Abkommens zu bewegen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan stellte in Aussicht, mit Kremlchef Putin darüber zu reden.
Die Türkei war 2022 neben den Vereinten Nationen an der Vermittlung der Vereinbarung beteiligt. "Ich glaube, dass mein Freund Putin das Abkommen trotz der heutigen Erklärung fortsetzen will", sagte Erdogan. Eine Verlängerung des Abkommens könne noch vor dem für August geplanten Besuch des russischen Präsidenten in der Türkei möglich sein, sagte er weiter.
Auch UN-Generalsekretär António Guterres kündigte an, sich weiter in dieser Hinsicht einzusetzen. "Unser Ziel muss es bleiben, die Ernährungssicherheit und die globale Preisstabilität voranzutreiben", sagte er. Guterres hatte Putin in der vergangenen Woche noch einen Brief mit Vorschlägen geschrieben, um das Abkommen zu retten. "Ich bin zutiefst enttäuscht, dass meine Vorschläge unbeachtet blieben", sagte er nun dazu.
Eine Vielzahl der Staaten verurteilte Russlands Weigerung, die Übereinkunft zu verlängern. Sie zeige, dass Russland sich nicht verantwortlich fühlt für ein gutes Miteinander in der Welt, sagte etwa Bundeskanzler Olaf Scholz in Brüssel. "Mit dieser Entscheidung verschärft Russland die weltweite Krise der Ernährungssicherheit weiter, die es durch seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine und seine Blockade der ukrainischen Seehäfen verursacht hat", erklärte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell. Und US-Außenminister Antony Blinken nannte die Aufkündigung skrupellos. Damit würden Lebensmittel als Waffe eingesetzt.
Mehr als 32 Millionen Tonnen Getreide exportiert
Bislang wurden im Rahmen der Initiative laut den UN mehr als 32 Millionen Tonnen landwirtschaftlicher Waren aus der Ukraine in 45 Länder exportiert. Mehr als 1000 Schiffe hätten ukrainische Häfen verlassen. In den vergangenen Monaten ging die exportierte Menge an Agrargütern zurück. Die Ukraine warf Russland vor, die vereinbarten Inspektionen zu verzögern.
Die Auswirkungen des geplatzten Deals sind derzeit noch nicht absehbar. Befürchtet werden aber steigende Preise und Versorgungsengpässe.
Das Aus für das Abkommen wird nach Einschätzung des Direktors des UN-Welternährungsprogramms (WFP) in Berlin, Martin Frick, für mehr Hunger auf der Welt sorgen. Die Entscheidung Russlands, die Vereinbarung aufzukündigen, werde sich unmittelbar auf die Preise durchschlagen, sagte Frick im Deutschlandfunk. Das treffe jene Menschen am härtesten, die ohnehin schon einen "Löwenanteil" ihres Einkommens für Grundnahrungsmittel ausgeben müssten.