Holocaust in der Ukraine "Erinnerung ist wichtig - gerade jetzt"
Im ukrainischen Babyn Jar haben die Nationalsozialisten mindestens 100.000 ukrainische Juden ermordet. Überlebende und ihre Nachkommen warnen heute mehr denn je vor dem Vergessen.
In Babyn Jar mitten in Kiew - wo heute Fußgänger dick eingepackt in einem Park spazieren gehen - hat während des Zweiten Weltkriegs der größte Massenmord an Jüdinnen und Juden stattgefunden.
Mindestens 33.771 Menschen wurden an diesem Ort innerhalb von zwei Tagen erschossen, 100.000 haben die Deutschen hier während der gesamten Besatzungszeit ermordet. Ein großes Denkmal erinnert heute an diese Zeit. Die Geschichten, die sich an diesem Ort zugetragen haben, erzählen von grenzenloser Grausamkeit.
Kaper Efim ist Arzt in einer Synagoge in Kiew. Sein Vater wurde 1914 in Lubar nahe Kiew geboren. Er und seine Vorfahren waren Zimmerleute. Von 1941 bis 1943 war er in deutscher Kriegsgefangenschaft. Viele Male hat er seinem Sohn von dieser Schreckenszeit berichtet.
Nach den Massenerschießungen in Babyn Jar seien die Juden nur oberflächlich an Ort und Stelle verscharrt worden. Die deutschen Besatzer zwangen ihn und andere Jüdinnen und Juden danach, die leblosen Körper ihrer Glaubensgeschwister zu verbrennen, um die Taten zu vertuschen.
Mehr als 1,5 Millionen ukrainische Juden ermordet
Einer von denen, die nach Hitlers Plänen ermordet werden sollten, ist der Historiker Borys Sabarko. Er war sechs Jahre alt, als die Wehrmacht seine Heimat überfiel. Er überlebte den Holocaust im Ghetto von Scharhorod im Südwesten der Ukraine.
"Jeder einzelne Ort war die Hölle", erzählt er. Alles sei beängstigend gewesen, die Menschen seien "getötet, erschossen, ertränkt, verbrannt“ worden. So sei es unter deutscher Besatzung in der gesamten Ukraine gewesen. Mehr als 1,5 Millionen ukrainische Jüdinnen und Juden wurden während des Zweiten Weltkriegs ermordet. Etwa 200 Bücher und Aufsätze hat Sabarko darüber verfasst.
Mehr als 1,5 Millionen ukrainische Jüdinnen und Juden wurden während des Zweiten Weltkriegs ermordet. Der Historiker Borys Sabarko überlebte im Ghetto von Scharhorod.
Erinnerung an Holocaust, um Gefangenschaft zu überleben
Die Erinnerung an die Gräueltaten der Nationalsozialisten sei wichtig, findet auch der Direktor des Ukrainischen Zentrums für Holocaust-Studien in Kiew, Anatolii Podolskyj. Gerade jetzt, seit dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine. Podolskyj erzählt von einem jungen jüdischen Geschichtslehrer in russischer Gefangenschaft in Mariupol. Was dieser zuvor über den Holocaust gelernt habe, habe ihm geholfen, durchzuhalten.
Der Lehrer habe ihm geschrieben, erzählt Podolskyj: "Wenn Du kein Brot hast, keinen Platz zum Schlafen, wenn Du jeden Moment getötet werden kannst - und in diesem Zustand war ich: Da hat es mir geholfen, mich an die Menschen zu erinnern, an ihr tägliches Leben im ständigen Angesicht des Todes. Die Erinnerung an sie hat mir geholfen, die russische Gefangenschaft zu überleben."
"Wen wollen sie entnazifizieren?"
Dass die russische Regierung behauptet, sie würde ausgerechnet Nazis in der Ukraine bekämpfen, macht den Wissenschaftler sprachlos. Auch Yosef Assmann hat dafür kein Verständnis. Er ist Rabbi an der Brodsky-Synagoge. Sie ist eine der wenigen noch genutzten Synagogen in Kiew. 2000 wurde sie wieder eingeweiht.
"Wenn sie sagen, dass sie kommen, um uns zu entnazifizieren, frage ich: Wen genau - den jüdischen Präsidenten? Die jüdische Gemeinschaft? Wen genau wollen sie entnazifizieren?", fragt Assmann. Die Ukraine sei ein offenes, multireligiöses Land.
Die russische Regierung behauptet, sie würde Nazis in der Ukraine bekämpfen. Rabbiner Yosef Assmann hat dafür wenig Verständnis.
Ein letztes Buch über den Holocaust
Doch seit der russischen Invasion haben viele jüdische Ukrainerinnen und Ukrainer das Land verlassen. Auch Borys Sabarko ist mittlerweile nicht mehr in der Ukraine. Erst habe er nicht gewollt, doch seine Tochter habe ihn schließlich überzeugt, nach Deutschland mitzukommen. Sie hätten seine Enkeltochter in Sicherheit bringen wollen, aber nicht ohne ihn.
Jetzt lebt er mit Tochter und Enkeltochter in Stuttgart. Es sei eine "furchtbare Tragödie", dass man nicht aus den Schrecken des Zweiten Weltkriegs gelernt habe, sagt Sabarko. Den hätten viele damals nur überlebt, weil sie überzeugt gewesen seien, dass der Slogan "Nie wieder" in Erfüllung gehen würde. Wie sich jetzt zeige, sei das nicht der Fall.
Borys Sabarko ist heute 87 Jahre alt. Er hofft, dass der Krieg gegen die Ukraine bald endet. Dann möchte er mit Tochter und Enkeltochter zurück nach Kiew, in die Heimat. Dort liegt ein halbfertiges Manuskript auf seinem Schreibtisch. Ein letztes Buch über den Holocaust in der Ukraine möchte er noch veröffentlichen - in einer freien Ukraine.