Frankreichs Präsident Macron "Geschwächt in seine zweite Amtszeit"
Frankreichs Präsident will nach seiner Wiederwahl das Land einen. Was er damit meint, sei unklar, sagt die Historikerin Élise Julien. Macron müsse jetzt um seine Mehrheit kämpfen - und sich auf einen Machtverlust einstellen.
tagesschau.de: Wie sehen Sie es - geht Macron gestärkt oder geschwächt in seine zweite Amtszeit?
Élise Julien: Macron geht geschwächt in seine zweite Amtszeit. Das Wahlergebnis war zwar nicht so knapp, wie die Umfragen zwischenzeitlich prognostiziert hatten. Aber sein Zuspruch ist schwächer als 2017, und darauf weist auch die Opposition hin.
Élise Julien promovierte im Fach Geschichte in Paris und in Berlin. Sie ist Wissenschaftlerin am Institut d'Etudes politiques in Lille (Frankreich) und Expertin für deutsch-französische Beziehungen. Seit Oktober 2021 lehrt sie als Gastdozentin an der Bergischen Universität Wuppertal.
Neues Programm gleicht alten Ideen
tagesschau.de: Macron hat am Wahlabend erklärt, er wolle nun Präsident aller Franzosen sein und die Gräben im Land überbrücken. Aber wie will er das anstellen?
Julien: Die Frage ist, ob er das überhaupt will. Ähnlich hat er sich schon nach seiner ersten Wahl 2017 geäußert. Und die Opposition bestreitet, dass er danach tatsächlich Rücksicht auf die Wähler genommen hat, die ihn nur gewählt haben, um Le Pen zu verhindern. Zugleich kündigt Macron an, dass die kommenden Jahre nicht ruhig verlaufen werden. Ein Land zu einen - darunter kann man vieles verstehen. Zwar hat Macron gestern eine Neuausrichtung angekündigt. Aber sein Wahlprogramm und die Ankündigungen noch kurz vor der Stichwahl waren eine Fortsetzung und die Vertiefung seines bisherigen Kurses.
tagesschau.de: Also eine Fortführung seines Reformprogramms, zum Beispiel mit einer Rentenreform.
Julien: Hier hat er sich bereit erklärt, über die Rentenreform zu diskutieren - aber nur in einem geringen Maß. Macron wollte ursprünglich eine Rente mit 65, nun bietet er eine Rente mit 64 an. Das ist kein großer Unterschied. Vieles wird von den Machtverhältnissen auf der Straße und im Parlament abhängen.
Der "dritte Wahlgang" folgt bald
tagesschau.de: Und die können sich schon im Juni ändern, wenn das Parlament neu gewählt wird...
Julien: Wenn die Linke gestärkt wird, wird er gezwungen werden, darauf Rücksicht zu nehmen. Es ist jetzt schon die Rede von einem "dritten Wahlgang". Bereits gestern Abend gab es in mehreren Städten Demonstrationen von Bürgern, die sicher nicht Le Pen gewählt haben, aber mit Slogans gegen Macron demonstrierten. Die Gewerkschaften sind zwar über den hohen Stimmenanteil für Le Pen besorgt, machen dafür aber die Sozialpolitik von Macron und seiner Vorgänger verantwortlich, die den Reichtum in den Händen weniger konzentriert und die Lebensbedingungen der Geringverdiener verschlechtert hat. Dagegen wollen sie in den kommenden Wochen demonstrieren, womöglich nicht nur am 1. Mai.
tagesschau.de: Muss sich Macron auf eine Mehrheit gegen ihn einstellen?
Julien: Frankreich ist gespalten. Der erste Wahlgang hat drei Blöcke hervortreten lassen: einen Block auf der extremen Rechten, einen Block in der rechten Mitte und einen Block auf der extremen Linken, und diese Blöcke werden sich kaum einigen können. Möglicherweise wird Macrons Block nicht die Mehrheit im Parlament bekommen.
Dass es eine Mehrheit gegen ihn geben wird, ist aber unwahrscheinlich, weil sich Mélenchon und Le Pen nicht werden einigen können. Es wäre das erste Mal, dass eine Parlamentswahl direkt nach den Präsidentschaftswahlen keine Mehrheit für den neuen Amtsinhaber bringt. Gleichwohl ist dies möglich.
Der Präsident und das Parlament
tagesschau.de: Wie stark würde das Macron einschränken?
Julien: Das wäre dann eine sogenannte Cohabitation - Macron müsste dann einen Premierminister ernennen, der von der Mehrheit des Parlaments getragen wird. Erste Oppositionelle von den Grünen rufen deshalb schon nach einem Wahlergebnis, das Macron dazu zwingt. Aber überhaupt eine Mehrheit gegen Macron zu bilden, wird schon schwierig werden. Auf lokaler Ebene dürften die traditionellen Parteien der Linken und Rechten noch stark - und stärker als bei der Präsidentschaftswahl - sein und eine gewisse Anzahl von Abgeordneten ins Parlament schicken. Daraus könnte eine Art "Großer Koalition" entstehen. Auch das wäre für Frankreich neu. Aber die politische Lage ist so instabil, dass man schwer vorhersagen kann, was in nur ein paar Monaten sein wird.
tagesschau.de: Der erste Wahlgang hat ja gezeigt, dass Frankreichs traditionelle Parteienlandschaft in Trümmern liegt - die einstmals dominierenden Sozialisten und Republikaner sind fast zur Bedeutungslosigkeit geschrumpft. Was könnte an ihre Stelle treten?
Julien: Das hat zum einen Macron den Sieg beschert. Die traditionelle Opposition ist verschwunden, viele ehemalige Republikaner sind zu ihm gewechselt und jetzt Minister in seinem Kabinett. Aber die Parlamentswahlen sind nicht so hoch personalisiert wie die Präsidentschaftswahlen, wo die Parteien noch eine größere Rolle spielen. Im Juni werden wir sehen, wie stark die Sozialisten und Republikaner noch auf lokaler Ebene sind und dort mobilisieren können.
Blick auf Macrons Nachfolge
tagesschau.de: Das könnte auch eine Rolle mit Blick auf 2027 spielen, wenn Macron nach zwei Amtszeiten nicht mehr antreten darf, Le Pen aber sehr wohl. Sehen Sie einen Kandidaten oder eine Kandidatin, der sie dann noch stoppen kann?
Julien: Le Pen hatte ursprünglich angekündigt, sie werde 2027 nicht noch einmal kandidieren. Gestern Abend erklärte sie dann, sie werde weiter für Frankreich kämpfen. Was sie 2027 tatsächlich macht, ist schwer abzuschätzen. Sie hat mit Jordan Bardella einen Politiker in die Position des stellvertretenden Parteivorsitzenden gebracht, der mit 26 Jahren noch sehr jung ist und seine eigentliche Karriere noch vor sich hat. Macron wird dagegen aus dem Amt scheiden - und seine Partei ist ausschließlich auf ihn ausgerichtet und wurde nur für ihn gegründet, das zeigt schon der Name.
tagesschau.de: Was also kann "EM" ohne Emmanuel Macron sein?
Ich sehe zwei Möglichkeiten: Ein Politiker aus dem Mitte-Rechts-Lager wie der ehemalige Premierminister Édouard Philippe könnte nach dem Vorbild Macrons antreten. Eine andere Möglichkeit wäre die Rückkehr zum traditionellen Muster - mit Kandidaten der Linken und Rechten. Der Kampf um die Nachfolge Macrons wird schon das Ende seiner zweiten Amtszeit bestimmen. Macron wird dann weniger Macht haben, weil er seine Anhänger weniger wird kontrollieren können.
"Europa wäre ratlos gewesen"
tagesschau.de: Der hohe Zuspruch für Kandidaten auf der extremen Linken und Rechten zeigt eine deutliche Skepsis der Franzosen gegenüber der EU. Woran macht sich das fest?
Julien: Die Skepsis der Franzosen gegenüber der EU ist nicht neu. Sie reicht zurück bis zum früheren Präsidenten Charles de Gaulle und dem Konzept eines Europas der Nationen. Die Linke lehnt das wirtschaftsliberale Europa und die Schwäche der Sozialpolitik ab. Der Rechten geht es um die Macht und Größe Frankreichs. Aber auch hier spielt das Soziale eine große Rolle und die Frage, was Europa für die sozial Schwächeren tut. Le Pen hat ja ihren Wahlkampf stark darauf und auf die Frage der Kaufkraft abgehoben.
Und auch wenn die Erleichterung in Europa über Macrons Sieg groß ist - ich habe nicht den Eindruck, dass die europäischen Partner sich der Dramatik in Frankreich bewusst sind. Keiner hatte einen Plan B für den Fall einer Niederlage Macrons vorbereitet. Europa braucht Frankreich, aber wäre ratlos gewesen, wie es ohne Macron hätte weitergehen sollen.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de