Soldaten der finnischen Armee
Interview

Finnlands NATO-Beitritt "Definitiv erleichtert"

Stand: 04.04.2023 19:02 Uhr

Finnland gibt seine Neutralität auf und schließt sich der NATO an. Die Sicherheitsexpertin Minna Alander schildert im Interview die Stimmung im Land und erläutert, was Finnland - außer Truppenstärke - in die NATO einbringt.

ARD: Warum ist der NATO-Beitritt Finnlands ein historischer Tag? 

Minna Alander: Mit diesem Tag endet für Finnland eine sehr lange Ära der Bündnisfreiheit - so heißt es zumindest in offiziellen Regierungsberichten. Von Neutralität kann man aber eigentlich seit dem EU-Beitritt 1995 nicht mehr sprechen. Dennoch endet heute die militärische Bündnisneutralität Finnlands. 

Zur Person
Minna Alander ist Mitarbeiterin des EU-Forschungsprogramms des Finnischen Instituts für Internationale Angelegenheiten (FIIA). Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehört die finnische und nordeuropäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik .

Zwischenzeitlich "etwas frustriert"

ARD: Wie würden Sie die Stimmung im Land beschreiben? Herrscht Erleichterung? 

Alander: Erleichtert ist man heute definitiv. Nachdem der Prozess im Dezember durch die Probleme mit der Türkei ins Stocken kam, war man etwas frustriert. Auch Ungarn hat die Ratifizierung immer wieder verschoben. Erleichterung ist jetzt auf jeden Fall zu spüren. 

 

"Früh" und "gründlich" vorbereitet

ARD: Der Ratifizierungsprozess kommt einem unheimlich schnell vor. 28 von 30 Ländern haben schnell Ja gesagt. Dann kamen Ungarn und die Türkei. Aber trotzdem hat es die finnische Diplomatie geschafft, beide Länder zu überzeugen. Was hat Finnland in diesem Prozess vielleicht ein bisschen besser gemacht als das Nachbarland Schweden, das auch der NATO beitreten will? 

Alander: Auf der finnischen Seite war der Vorbereitungsprozess, also bevor der Antrag im Mai 2022 überhaupt gestellt wurde, viel gründlicher als in Schweden. Das lag daran, dass in Finnland schon viel früher feststand, dass man tatsächlich einen NATO-Beitritt anstreben will.

In Schweden hat der interne Prozess bei den Sozialdemokraten, die im Frühjahr vergangenen Jahres regierten und traditionell starke Gegner der NATO waren, viel länger gedauert. Die schwedischen Diplomaten konnten diesen Prozess daher nicht so gründlich durchführen wie auf der finnischen Seite. 

Neuer Konsens

ARD: In Finnland herrscht über alle Parteigrenzen hinweg Konsens über die NATO-Frage, trotz eines konservativen Präsidenten, einer sozialdemokratischen Ministerpräsidentin und eines grünen Außenministers. Ist das der finnische Pragmatismus? Oder gibt es das seit jeher, dass man sich in außen- und sicherheitspolitischen Fragen so einig ist? 

Alander: In Finnland gibt es tatsächlich diese sehr starke Konsenskultur in der Außen- und Sicherheitspolitik. Die war in der NATO-Frage allerdings bis zum Ukraine-Krieg genau umgekehrt. Man war sich einig, dass Finnland der NATO nicht beitreten soll.

Das Interessante ist, dass jetzt selbst die Linkspartei in Finnland nicht grundsätzlich gegen einen Beitritt war. Einzelne Abgeordnete schon, aber nicht die gesamte Partei. Der Konsens hat sich auch in der NATO-Frage am Ende bewährt. Man hat eingesehen, dass eine finnische NATO-Mitgliedschaft für die Sicherheitspolitik des Landes das einzig Sinnvolle ist.  

Schnelle Mobilisierungsfähigkeit

ARD: Was bringt Finnland konkret in die NATO ein? 

Alander: Mit Finnland gewinnt die NATO an Truppenstärke. Bis zu 280.000 Soldaten kann Finnland schnell mobilisieren, die Gesamtreserve beträgt 870.000. Das ist eine außergewöhnlich hohe Zahl für europäische Standards, insbesondere für ein Land mit nur 5,5 Millionen Einwohnern.

Darüber hinaus hat Finnland eine der größten Artillerien in Europa und insgesamt sehr modern ausgestattete Truppen. Die finnischen Luftstreitkräfte sind zum Beispiel sehr gut ausgerüstet und sollen in den nächsten Jahren zusätzliche 64 F35-Kampfjets erhalten. Das ist dasselbe Modell, das auch Deutschland demnächst erhalten soll, allerdings nur circa 30 Stück. Gerade in der jetzigen Situation, in der das Ziel der NATO ist, die Anzahl schnell einsetzbarer Truppen zu erhöhen, ist Finnland also ein wichtiges Mitgliedsland. 

Die türkische Verhandlungstaktik

ARD: Man hat aus strategischen Gründen eigentlich versucht, Hand in Hand mit Schweden der NATO beizutreten. Gab es Momente, in denen sich Finnland diplomatisch etwas geschickter verhalten hat als Schweden? Was hat Finnland auch praktisch besser gemacht unter anderem in den Gesprächen mit Ankara, Budapest, aber auch mit allen anderen NATO-Ländern? 

Alander: Schweden waren am Ende die Hände gebunden. Die türkischen Einwände haben sich vor allem auf die schwedische Mitgliedschaft bezogen, wobei es schwierig war, der Türkei diesbezüglich entgegenzukommen. Es geht der Türkei besonders um die Auslieferungen von sogenannten Terroristen. Auslieferungen können aber in Schweden nicht von der Politik beschlossen werden, sondern müssen den normalen rechtsstaatlichen Prozess durchlaufen.

Höchstwahrscheinlich hat das Verhalten der Türkei aber gar nichts mit Schweden zu tun. Sie haben diesen Konflikt als Verhandlungsstrategie für sich genutzt. So hat Ankara schon oft in der Vergangenheit agiert. Insofern war es ein schwieriger Balanceakt für Schweden. Auch weil aus der Türkei mehrfach signalisiert wurde, dass man eigentlich nichts gegen Finnland hat. Für einen finnischen Beitritt müssten lediglich die beiden Beitrittsprozesse voneinander getrennt werden. Das war wiederum für Finnland eine schwierige Entscheidung, denn man wollte gemeinsam mit Schweden der NATO beitreten. 

"Enge Verteidigungskooperation" mit Schweden

ARD: Die finnische Seite betont oft, man brauche Schweden, weil die Verteidigungsstrategien der beiden Länder aufeinander beruhen. Braucht man sich wirklich so sehr? 

Alander: Die finnisch-schwedische Verteidigungskooperation ist sehr eng. Man verfügt über gemeinsame Marineeinheiten und die Luftstreitkräfte üben bereits nahezu wöchentlich miteinander. Schwedisches Territorium kann zum Beispiel gut genutzt werden, um Finnland zu verteidigen. Schweden ist in der gesamten nordbaltischen Region so zentral gelegen, dass es die Verteidigung erschweren würde, wenn Schweden langfristig kein NATO-Mitglied werden würde. 

"Finnland hält sich alle Türen offen"

ARD: Ein Blick in die Zukunft: Man konnte die finnische Regierung bisher so verstehen, dass sie keine Nuklearwaffen und auch keine NATO-Basen in Finnland stationieren will. Das ist eine sehr skandinavische Haltung. Mitglied im Bündnis zu sein, aber ähnlich wie in Deutschland ein paar Sachen als No-Go zu beschreiben, wird das Bestand haben? 

Alander: Finnland hält sich gerade alle Türen offen. Man stellt keine Forderungen an die NATO-Mitgliedschaft. Es wurde nichts von vornherein ausgeschlossen. Also man kann über alles sprechen. Dass bei einer vollwertigen Mitgliedschaft keine Bedingungen gestellt oder Dinge ausgeschlossen werden können, ist etwas, was man in Finnland verstanden hat und wofür man auch in Schweden zunehmend Verständnis entwickelt. 

Finnland ist als 31. Mitglied in die Militärallianz aufgenommen

Markus Preiß, ARD Brüssel, tagesschau, 04.04.2023 17:00 Uhr

"Schwedens Beitritt ist oberste Priorität"

ARD: Was kann Finnland nun tun, damit auch Nachbarland Schweden zeitnah in der NATO aufgenommen wird? 

Alander: Der schnellstmögliche Beitritt Schwedens ist natürlich die oberste Priorität für Finnland, jetzt wo Finnland selber NATO-Mitglied ist. Allerdings ist Finnlands Handlungsspielraum begrenzt. Druck auf die Türkei ist bereits von den 28 Mitgliedsländern, die Finnlands und Schwedens NATO-Mitgliedschaft ratifiziert haben, ausgeübt worden. Insofern glaube ich nicht, dass noch mehr Druck etwas bewirken wird.

Vielmehr könnte Finnland einen konstruktiveren Ansatz anstreben. Das trilaterale Abkommen, das vergangenen Sommer zwischen Finnland, Schweden und der Türkei abgeschlossen wurde, könnte eine Möglichkeit sein, konstruktiver darauf hinzuweisen, welche Punkte Schweden bereits erfüllt hat. Das könnte ein Weg sein, damit Schweden schnellstmöglich NATO-Mitglied werden kann. 

"Beitritt stabilisiert die Region"

ARD: Erwarten Sie Spannungen im Ostseeraum durch die Mitgliedschaft Finnlands, weil sich Russland aus irgendeinem Grund eingekreist fühlen könnte? 

Alander: Ich glaube, dass sich die bisherigen Spannungen eher legen werden, weil die Situation jetzt viel klarer ist. Die finnische und eine zukünftige schwedische Mitgliedschaft in der NATO stabilisiert die Region insofern, als dass Russland dann viel weniger Handlungsspielraum hat, die kleineren Nachbarländer im Baltikum und auch die nordischen Nachbarn mit zum Beispiel Luftraumverletzungen und ähnlichem unter Druck zu setzen.

Russland muss sich viel genauer überlegen, ob es sich diese Art von Provokationen noch leisten kann. Auch Kaliningrad verliert natürlich einiges an strategischem Wert für Russland, weil man das Baltikum viel besser von Schweden und Finnland aus verteidigen kann und sich alternative Nachschubrouten ergeben. Ab jetzt ist die Verteidigung des Baltikums via Land, See und Luft möglich, und dadurch ist dann Kaliningrad nicht mehr so relevant. 

Das Gespräch führte Christian Blenker, ARD-Studio Stockholm. Mitarbeit: Linnea Pirntke 

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 04. April 2023 um 18:00 Uhr.