Flaggen der EU-Staaten
Hintergrund

Vertragsverletzungsverfahren Wie das EU-Recht durchgesetzt wird

Stand: 09.06.2021 16:21 Uhr

Um das Recht der Europäischen Union in den EU-Staaten durchzusetzen, gibt es das Vertragsverletzungsverfahren. Es kann zu hohen Strafzahlungen führen.

Von Christoph Kehlbach, ARD-Rechtsredaktion

Das Recht der Europäischen Union soll in den EU-Mitgliedsstaaten umgesetzt werden. Um das durchzusetzen, gibt es ein formelles Verfahren: das Vertragsverletzungsverfahren. Im Extremfall kann der Europäische Gerichtshof als Druckmittel ganz erhebliche Strafzahlungen festsetzen.

Anlass: Verstoß gegen Verpflichtung aus den EU-Verträgen

Ausgelöst wird ein Vertragsverletzungsverfahren in aller Regel durch die EU-Kommission. Und zwar dann, wenn sie zur Überzeugung gelangt, dass sich ein Mitgliedsstaat der Europäischen Union nicht an das EU-Recht hält. Daher stammt auch die Bezeichnung der EU-Kommission als "Hüterin der EU-Verträge".

Konkret kann es dabei etwa darum gehen, dass der jeweilige Staat eine Richtlinie der EU nicht in nationales Recht umsetzt. Solche Richtlinien regeln etwa EU-weiten Verbraucherschutz. Alle Mitgliedsstaaten sind verpflichtet, sie umzusetzen. Oder dass ein Staat Gesetze erlässt, die einer Verpflichtung aus den EU-Verträgen zuwiderlaufen. Beispielsweise, weil sie den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr unzulässig einschränken. Die Kommission wendet sich dann zunächst an den Staat direkt. Wenn das nicht hilft, kann sie letztlich den Fall vor den Europäischen Gerichtshof (EuGH) bringen.

EU-Fahnen wehen vor dem Sitz der EU-Kommission in Brüssel

In der Regel leitet die EU-Kommission Vertragsverletzungsverfahren ein.

Es ist auch möglich, dass nicht die Kommission, sondern ein anderer EU-Staat ein Vertragsverletzungsverfahren auslöst. Er muss sich dabei allerdings zuerst an die Kommission wenden. Nur wenn die untätig bleibt, kann dieser Staat direkt beim EuGH klagen. Das geschieht sehr selten.

Ein prominentes Beispiel für einen solchen Ausnahmefall war der Streit um die von der Bundesregierung geplante Pkw-Maut für Autos, die nicht in Deutschland angemeldet sind: Österreich sah darin eine Diskriminierung und wurde aktiv, nachdem die EU-Kommission untätig geblieben war. Letztlich kam die Maut so vor den EuGH. Dieser kippte sie im Sommer 2019 in einer spektakulären Entscheidung: Das Gericht war zum Urteil gekommen, dass die Maut Bürger und Unternehmen aus anderen EU-Staaten diskriminiere und so die Waren- und Dienstleistungsfreiheit einschränke.  

Dreistufiges Verfahren

In den allermeisten Fällen ist es aber die Kommission selbst, die von sich aus aktiv wird. Das "normale" Verfahren ist dabei klar geregelt: Sieht die EU-Kommission einen Verstoß, fordert sie in einem ersten Schritt den betreffenden Staat schriftlich zur Stellungnahme auf. Das Land muss dann innerhalb einer festgelegten Frist antworten. Meistens beträgt diese Frist zwei Monate. Nun ist es zumindest denkbar, dass sich Brüssel von diesem Antwortschreiben überzeugen lässt, also einsieht, dass kein Verstoß gegen EU-Recht vorliegt. Dann endet das Verfahren schon an dieser Stelle.

Kommt die Kommission aber nach einer Antwort zu dem Ergebnis, dass tatsächlich ein Verstoß gegen EU-Recht vorliegt, dann gibt sie in einem zweiten Schritt eine offizielle Stellungnahme ab. Darin begründet die Kommission ihre Auffassung und fordert den Staat auf, dafür zu sorgen, dass der EU-Rechts-widrige Zustand beendet wird. Innerhalb einer weiteren Frist (wieder sind es meistens zwei Monate) muss der Staat dann Auskunft darüber geben, was er zu diesem Zweck unternommen hat.

Kommt der Staat innerhalb dieser Frist seiner Pflicht nicht, oder nur ungenügend nach, kann die Kommission in einem dritten Schritt den Fall vor den Europäischen Gerichtshof (EuGH) bringen. Die Richterinnen und Richter in Luxemburg sprechen dann ein Urteil in der Sache. Ein solches Urteil gegen Deutschland gab es zum Beispiel Anfang Juni 2021: Dabei ging es um die jahrelange Überschreitung von Grenzwerten für Stickstoffdioxid. Gibt der EuGH der Kommission Recht, stellt also wie in diesem Fall einen Verstoß gegen die EU-Verträge fest, muss der betroffene Staat dann zwingend Taten folgen lassen, um diesen Zustand zu beseitigen. Oder nachweisen, dass der rechtswidrige Zustand schon beseitigt ist.

Schild des Europäischen Gerichtshof vor dem Gebäude in Luxemburg

Der Europäische Gerichtshof entscheidet in Vertragsverletzungsverfahren, ob EU-Recht verletzt wurde - und kann in letzter Konsequenz sogar hohe Strafzahlungen verhängen.

Finanzielle Sanktionen nach Urteil möglich

Kommt ein Staat nach einem solchen Urteil des EuGH seinen Verpflichtungen immer noch nicht nach, kann die EU-Kommission den EuGH ein weiteres Mal anrufen. In diesem zweiten Gerichtsverfahren geht es um finanzielle Sanktionen. Auf Vorschlag der Kommission kann der EuGH dann ein regelmäßiges Zwangsgeld gegen den Staat festsetzen, oder einen Pauschalbetrag erheben - oder beides kombinieren.

Je länger ein Staat einen Verstoß gegen die EU-Verträge bestehen lässt, umso teurer wird es. So kommen etwa wegen Datenschutz-Verstößen Pauschalzahlungen in Höhe von zweistelligen Millionenbeträgen durchaus vor - gerne auch kombiniert mit einem täglichen Strafsatz von zigtausend Euro. Solche Strafzahlungen sind aber immer erst der allerletzte Schritt.

Besonders heikle Situation

Das Vertragsverletzungsverfahren hinsichtlich des EZB-Urteils aus Karlsruhe ist besonders heikel: Denn hier geht es ja nicht einfach darum, dass Deutschland eine EU-Rechtsnorm nicht in nationales Recht umgesetzt hat oder bestimmte Richtwerte nicht erreicht. Vielmehr ist der Gegenstand des konkreten Vertragsverletzungsverfahrens erstmals ein Urteil des höchsten deutschen Gerichts. Genauer gesagt: Ein Urteil, in dem das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat, dass Europäische Zentralbank (EZB) und auch der EuGH ihre Kompetenzen überschritten hätten. In letzter Konsequenz könnte es also, sofern das Verfahren nicht vorher beendet wird, zu einer kuriosen Situation kommen: Der EuGH könnte darüber entscheiden, ob ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, welches dem EuGH einen massiven Fehler bescheinigt, gegen EU-Recht verstößt.

Christoph Kehlbach, Christoph Kehlbach, SWR, 09.06.2021 14:34 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 09. Juni 2021 um 16:00 Uhr.