"Erdbebendiplomatie" In der Katastrophe vereint
Griechenland eilte nach dem Erdbeben in der Türkei sofort zur Hilfe. Die Katastrophe lässt die jahrelangen Spannungen in den Hintergrund treten. Die Nachbarländer nähern sich wieder an.
Zwei Männer umarmen sich - an sich nichts Außergewöhnliches. Doch in Griechenland und der Türkei war es eine kleine Sensation, einer dieser wenigen positiven Augenblicke angesichts der Erdbebenkatastrophe mit Zehntausenden Toten.
Bei den beiden Männern handelt es sich um den griechischen Außenminister Nikos Dendias und seinen türkischen Amtskollegen Mevlüt Cavusoglu. Das letzte offizielle Zusammentreffen der beiden vor einem Jahr endete noch in einem Eklat: Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz gerieten die beiden Chefdiplomaten aneinander und überschütteten sich gegenseitig mit Vorwürfen.
Doch nun zeigen sie sich angesichts der Erdbebenkatastrophe vereint. Cavusoglu bedankte sich dafür, dass Griechenland sofort Hilfe in die Türkei geschickt hat. Die beiden Staaten würden in einem Dialog versuchen, ihre Probleme zu lösen, fügte er hinzu.
Griechenland solidarisch mit der Türkei
Tatsächlich war Griechenland eines der ersten Länder, das nach dem verheerenden Erdbeben Hilfe in die Südosttürkei schickte: Zwei Dutzend speziell für die Erdbebenrettung ausgebildete Feuerwehrleute mit Suchhunden, Räumgerät, vier Ärzten und weiteren Spezialisten.
Auch die Solidarität innerhalb der griechischen Bevölkerung war von Beginn an überwältigend. Der Staatssender ERT eröffnete das Tagesprogramm mit Bildern aus dem Erdbebengebiet, hinterlegt mit einem türkischen Liebeslied. Der Ausschnitt ging viral - nicht nur in Griechenland, sondern auch in der Türkei. Dort werden die griechischen Rettungsteams als Helden gefeiert.
Dass Griechenland sofort Hilfe in die Türkei schicken würde, habe zu keinem Zeitpunkt zur Debatte gestanden, betonte auch der für den Rettungseinsatz zuständige griechische Minister für Zivilschutz, Christos Stylianides, im Interview mit der ARD: "Für alle, die das griechische Volk und auch die Regierung kennen, ist klar gewesen, dass wir die ersten sein würden, die unseren Nachbarn sofort zu Hilfe eilen." Wenn so eine Katastrophe passiere, sei alles andere nebensächlich.
Griechen helfen trotz Kriegsdrohung der Türkei
Dabei hatten noch kurz vorher die außenpolitischen Zeichen alles andere als auf Freundschaft und Solidarität gestanden. Die Liste der Konfliktthemen zwischen Athen und Ankara ist lang: Flüchtlinge, Hoheitsrechte und Gasbohrungen im östlichen Mittelmeer.
Zuletzt hatte der türkische Präsident Recep Tayip Erdogan Griechenland die Souveränität über bestimmte Inseln in der Ägäis wie Rhodos, Kos und Lesbos abgesprochen und immer wieder mit einer Invasion gedroht.
Die Stimmung sei sehr angespannt gewesen, sagt Constantinos Filis vom Institute of Global Affairs in Athen. Trotzdem habe er nichts anderes von der griechischen Regierung erwartet, denn "Geographie ist Schicksal".
Erinnerungen an das Erdbeben von 1999
Beide Nationen wissen nur zu gut: Naturkatastrophen wie Waldbrände oder eben Erdbeben machen vor Landesgrenzen keinen Halt; bereits in der Vergangenheit haben solche Ereignisse die beiden Länder wieder näher zusammengebracht.
Im August 1999 bebte zuerst im Nordwesten der Türkei, unter anderem in Istanbul, die Erde. Keine 30 Tage später wurde Athen von einem schweren Erdbeben erschüttert.
Auch damals hatte es erhebliche Spannungen zwischen beiden Ländern gegeben, noch zwei Jahre zuvor wäre es sogar beinahe zu einer militärischen Auseinandersetzung gekommen. Nachdem die Erde bebte, schickten sich beide Länder dennoch sofort gegenseitig Rettungsteams.
Neustart der griechisch-türkischen Beziehungen?
Daraus sei die sogenannte Erdbebendiplomatie entstanden, sagt Politikwissenschaftler Filis. Man habe Gemeinsamkeiten festgestellt und gemerkt, dass man gerade in Bezug auf Naturkatastrophen vor denselben Herausforderungen stehe.
Dadurch habe sich die Atmosphäre verbessert. Infolgedessen hätten beide Regierungen über Jahre gezielt daran gearbeitet, das gegenseitige Vertrauen wieder aufzubauen - bis Erdogan seit 2016 immer feindseligere Töne gegenüber Griechenland angeschlagen habe.
Ob es dieses Mal erneut zu einer Phase der Entspannung kommt, bleibt daher abzuwarten. Sowohl in der Türkei als auch in Griechenland finden in diesem Jahr Parlamentswahlen statt. Erdogan hat in der Vergangenheit den Konflikt mit Athen vor allem dazu genutzt, um auf Stimmenfang bei den Nationalisten zu gehen.
Zentrale Konfliktthemen bleiben
Allerdings würde sich Erdogan, angesichts der aktuell sehr positiven Stimmung gegenüber Griechenland, momentan wohl eher schaden, wenn er jetzt wieder anfinge, Griechenland zu bedrohen, sagt Filis.
Von daher sei eine Deeskalation der Spannungen überaus wahrscheinlich. Ob es darüber hinaus aber zu langfristigen Lösungen für die zentralen Konfliktthemen - wie Hoheitsrechte, Migration oder der Erdgasförderung im Mittelmeer - gebe, sei zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht abzusehen.