Spanische Exklave Ceuta Wenn die Grenzgänger festsitzen
Seit anderthalb Jahren sitzen Pendler zwischen Marokko und Spanien in Ceuta fest: Verlassen sie die Exklave, können sie pandemiebedingt nicht mehr einreisen - und verlieren ihre Arbeit. Nun sind viele mit den Nerven am Ende.
Ahmed Nuino kann das Foto auf seinem Telefon nicht anschauen, ohne dass ihm die Tränen kommen. Seine Tochter sitzt da, in weißem Kleid und mit Schleier, und blickt etwas verloren in die Kamera. Glückliche Hochzeitsfotos sehen anders aus. Im September hat sie geheiratet - und Nuino kann immer noch nicht fassen, dass er nicht dabei war. "An so einem Tag braucht eine junge Frau doch ihren Vater", sagt der 56-jährige Konditor weinend. "Ich fühle mich so machtlos. Plötzlich merke ich, dass ich hier überhaupt keine Rechte habe." Dann dreht er weiter Zuckerrosen für die Sahnetorte, an der er gerade arbeitet. Irgendwo in Ceuta hat ein kleines Mädchen morgen Geburtstag, bis Ladenschluss muss die Torte fertig sein.
Passierschein statt Aufenthaltsgenehmigung
Bis zum Ausbruch der Pandemie gab es in der spanischen Exklave Ceuta Tausende Pendler wie Ahmed. "Transfronterizos", "Grenzgänger", die auf dem Weg zur Arbeit jeden Tag die Grenze zwischen zwei Kontinenten überquerten: die zwischen ihrem Wohnort in Marokko und ihrem Arbeitsplatz in Ceuta, den 18 Quadratkilometern Europa an der nordafrikanischen Küste. Eine Aufenthaltsgenehmigung haben die Grenzgänger nicht, nur eine Art Passierschein.
Eigentlich müssen sie jeden Abend wieder nach Marokko zurückkehren. Ausnahmen, wie etwa nach einem besonders langen Arbeitstag, wurden von den spanischen Behörden aber stillschweigend geduldet. Schließlich waren alle Beteiligten mit dem Arrangement jahrelang zufrieden: die Pendler, die einen für marokkanische Verhältnisse ordentlichen Lohn mit nach Hause nehmen konnten - und Tausende ceutische Unternehmer oder Familien, die auf dem spanischen Arbeitsmarkt kaum noch Interessenten für die harten Jobs in der Altenpflege, in der Gebäudereinigung oder auf dem Bau fanden.
Dass Ahmed Nuino bei der Hochzeit seiner Tochter nicht dabeisein konnte, schmerzt ihn sehr.
Aus Monaten wurden anderthalb Jahre
Seit dem Frühjahr 2020 ist die Situation eine andere: Die Corona-Infektionen schossen weltweit in die Höhe, die Lage drohte außer Kontrolle zu geraten. Am 13. März schlossen Marokko und Spanien den Grenzübergang nach Ceuta. Die meisten Pendler konnten die kleine Halbinsel noch fluchtartig verlassen, ein paar Hundert blieben. Sie wollten ihre Jobs nicht aufgeben, sagt Rachida Jraifi, die als eine Art Sprecherin der "Transfronterizos" auftritt. "Wir ernähren mit unserem Lohn schließlich unsere Familien daheim. Außerdem haben wir doch alle geglaubt, dass der Spuk nach zwei, drei Monaten vorbei ist."
Aus zwei, drei Monaten sind nun anderthalb Jahre geworden - und die Eingeschlossenen sind mit den Nerven am Ende. Jeden Montag demonstrieren sie vor der Vertretung der spanischen Regierung im Stadtzentrum. Schweigend, mit Masken, über die sie kreuzweise schwarze Bänder geklebt haben. "Wir sind die Unsichtbaren", erklärt Jraifi. "Und keiner will hören, was wir zu sagen haben: dass wir endlich eine menschenwürdige Behandlung fordern. Viele von uns haben Depressionen oder Schlafstörungen, müssen Tabletten nehmen. Wir wollen endlich unsere Familien wiedersehen!"
Rachida Jraifi tritt als Sprecherin der "Transfrontizeros" in Ceuta auf.
Regierung verweist auf "Korridore" aus Ceuta
Die Grenzgänger seien allerdings an ihrer Situation selbst schuld, sagt Salvadora Mateos, die Vertreterin der Madrider Zentralregierung. Marokko und Spanien hätten seit Ausbruch der Pandemie mehrmals einen "humanitären Korridor" eingerichtet und den Grenzgängern kurzzeitig die Möglichkeit gegeben, Ceuta zu verlassen. Wenn die betroffenen Marokkaner diese Möglichkeit nicht nutzen wollten, sei die Regierung machtlos.
Was die Regierung verschweigt: Verlassen die Pendler Ceuta, kommen sie - zumindest in der derzeitigen Situation - so schnell nicht mehr zurück. Gewerkschafter halten das Ausreise-Angebot deshalb auch für Augenwischerei: Die "Transfronterizos" bräuchten schließlich ihre Arbeit - und ihre Arbeitgeber bräuchten sie.
Die "Transfrontizeros" demonstrieren, um auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Dass sie laut Spaniens Regierung das Land verlassen können, nennen viele eine Augenwischerei.
Nuinos Chef Rafael Lima kann das bestätigen: Seine Frau und er sind alt und können ihre Bäckerei nicht mehr allein führen. Seit 1932 ist das Traditionsunternehmen im Familienbesitz. Eigentlich wollten sie nächstes Jahr ihr 90. Jubiläum feiern. Jetzt ist ihre größte Angst, dass Ahmed ausreist - und dann nicht wieder nach Ceuta kann: "Wenn Ahmed nicht mehr zurückkommt, machen wir den Laden dicht", sagt er.
Diese und weitere Reportagen sehen Sie im "Europamagazin" am Sonntag, 10.10.2021 um 12.45 Uhr im Ersten.