Kämpfe um Awdijiwka Keine Zeit für Ängste
Seit Beginn des Kriegs in Nahost haben in der Ukraine die Angriffe Russlands an Intensität zugenommen. Soldaten und Sanitäter an der Front sehen darin einen Zusammenhang - und sorgen sich um den internationalen Rückhalt.
"Unsere Gefühle sind zu Hause bei unserer Familie geblieben", sagt Wolodymyr, Kommandeur einer Sanitätskompanie unweit der heftig umkämpften Stadt Awdijiwka. Gefühle können er und seine Einheit sich im Krieg nicht leisten. Im Schutz der Bäume warten sie auf ihren nächsten Einsatz.
Die Front ist hier sehr nah. Immer wieder kommen auch hier die Drohnen der russischen Truppen vorbei, suchen Felder und Wälder nach ukrainischen Soldaten ab, feuern auf Unterstände.
Der Gedanke an den Tod ist allgegenwärtig
Wolodymyr und seine Kameraden haben sich darauf eingestellt, dass auch sie vielleicht nicht nach Hause zurückkehren würden, erzählt er. Denn in den vergangenen Wochen sind die Angriffe der russischen Truppen wieder heftiger geworden, besonders hier, nahe der Front bei Awdijiwka.
Wolodymyr ist überzeugt: "Viele werden nicht nach Hause zurückkehren." Der Sanitäter blickt mit leerem Blick in die Ferne.
Krankenwagen unter Tarnnetzen
Wenig später geht das Funkgerät. Drei schwerverletzte Soldaten wurden in der Nähe aus dem Feld geborgen. Wolodymyr schickt Sanitäter Dmytro los. Der 22-Jährige rennt zum Krankenwagen - auch den haben sie im Schutz der Bäume versteckt. Tarnnetze sind über eine Kuhle im Boden gehängt. Dort steht der Wagen.
Es geht zu einem geheimen Treffpunkt, dort übernehmen Dmytro und seine Kollegen die verwundeten Soldaten. Ein Artilleriegeschoss wurde in den Eingang ihres Unterstands gefeuert. Einer der getroffenen Soldaten hat Granatsplitter im Kopf, im Gesicht, in Armen und Händen.
Die Versorgung der Verletzten geschieht in Frontnähe meistens unter einfachsten Bedingungen - und unter großem Zeitdruck.
Die Zahl der Toten bleibt meistens geheim
Konzentriert versorgt Dmytro seine Patienten, redet ihnen unablässig gut zu, während der Krankenwagen in ein nahe gelegenes kleines Krankenhaus rast. Hier werden verletzte Soldaten so gut wie möglich medizinisch stabilisiert. Erst dann können sie in besser ausgestattete Kliniken gebracht werden.
Doch dort gelingt es den Ärzten nur zwei der drei Verletzten zu stabilisieren. Der dritte schafft es nicht. Ein weiterer Toter in der grausamen Kriegsstatistik.
Offizielle Zahlen zu Toten und Verletzten wird hier niemand nennen. Das könne dem Feind nutzen und die eigenen Truppen demoralisieren, sagt einer der Ärzte.
Schätzungen gehen von mehreren Hundert am Tag aus - immer noch viel weniger als auf russischer Seite. Es sind Zahlen, die sich mitten im Krieg nicht überprüfen lassen.
Verstecken, warten und reparieren - in Unterständen werden Krankenwagen und Kriegsgerät vor Angriffen der russischen Armee geschützt.
Russland intensiviert die Angriffe
Ein paar Kilometer weiter reparieren Soldaten einer Panzereinheit kaputte Panzer. Sie sagen: Seitdem die Terror-Organisation Hamas Israel überfallen hat, übe die russische Armee mehr Druck auf Awdijiwka aus. "Es fühlt sich so an, als ob sie versuchen, den Moment auszunutzen", sagt einer der Soldaten. "Sie spekulieren darauf, dass die Vereinigten Staaten und ihre Partner nicht genug Kraft haben, um auf zwei Seiten zu kämpfen."
Was die Soldaten erzählen, deckt sich mit der Analyse internationaler Beobachter. "Den Luxus, sich nur auf eine Krise, einen Krieg, einen Konflikt zu konzentrieren, haben wir nicht", sagt Claudia Major, Sicherheitsexpertin der Stiftung Wissenschaft und Politik. Es gebe tatsächlich einen Wettbewerb um politische Aufmerksamkeit.
Viele der politischen Debatten würden sich aktuell um Israel, um den Nahen Osten drehen. Das sei in Bezug auf die Ukraine eine "riesengroße Herausforderung", wenn es um die Sicherstellung der militärischen, finanziellen, wirtschaftlichen und humanitären Unterstützung gehe. Doch aktuell gehe es vor allem um die politische Aufmerksamkeit. "Es ist noch kein Wettbewerb um Ressourcen", sagt Major. Das würde vielmehr mittel- bis langfristig ein Problem.
Die Kriegsziele sind unverändert
Das übergeordnete Ziel der russischen Armee, die Ukraine als eigenständigen Staat auszulöschen, habe sich nicht verändert, erklärt Major. "Bei der aktuellen Offensive scheint es darum zu gehen, dass Russland noch einen wichtigen Knotenpunkt einnimmt, dass sie Awdijiwka möglicherweise auch als Überwinterungsquartier haben."
Solange Russland seine Ziele nicht verändern würde, solange Russland die eigene Staatlichkeit der Ukraine immer noch in Frage stelle und solange Russland immer noch ein militarisierter Staat sei, der glaubt, mit Krieg seine Ziele durchsetzen zu können, "so lange wird es keine Stabilität und keine verlässliche Souveränität für die Ukraine geben", so Major.
Die Soldaten an der Front sind entschlossen: Sie wollen durchhalten. Auch wenn sie wissen, dass viele von ihnen nicht nach Hause zurückkehren werden.
Diese und weitere Reportagen sehen Sie im Weltspiegel - am Sonntag, 5.11.2023, um 18:30 Uhr im Ersten.