AKW Saporischschja Drehen an der Angstspirale
Einmal mehr sorgt die Situation am russisch besetzten Kernkraftwerk Saporischschja in der Ukraine für Aufsehen. Auffällig ist laut Beobachtern jedoch der Zeitpunkt des Brandes.
Dichte Rauchwolken über einem Atomkraftwerk, noch dazu in einem Kriegsgebiet - das sind Bilder, die ebenso spektakulär wie besorgniserregend wirken. Ebensolche Bilder gab es Sonntagabend am AKW Saporischschja im Südosten der Ukraine. Russland hält das größte Kernkraftwerk Europas seit mittlerweile mehr als zwei Jahren besetzt.
Die Reaktion aus Moskau erfolgte prompt - es habe einen ukrainischen Drohnenangriff auf die Umgebung des AKW gegeben, dies habe einen Brand in einem der Kühltürme ausgelöst, sagte der russische Statthalter der teilweise besetzten Region Saporischschja, Jewgeni Balizki. Nach drei Stunden sei das Feuer gelöscht worden.
"Nukleare Erpressung"
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj konterte und machte Russland für das Feuer verantwortlich. Es sei ein weiterer Versuch der "nuklearen Erpressung", so Selenskyj. Einig waren sich beide Seiten zumindest, dass keine erhöhte radioaktive Strahlung zu verzeichnen war.
Letzteres überrascht die Kernkraft-Expertin Anna Veronika Wendland nicht. Die Forschungskoordinatorin am Herder-Institut teilte dem ARD-Studio Kiew schriftlich mit, dass der Brand für die Reaktorsicherheit keine Rolle gespielt habe: "Die Anlage Saporischschja, sechs Blöcke mit Druckwasserreaktoren, ist seit September 2022 abgeschaltet. Die Nachzerfallswärme, die aus (…) den Reaktoren abgeführt werden muss, ist daher sehr gering. Die dafür zuständige Nachkühlkette läuft über einen anderen Weg, die Kühltürme sind nicht involviert", schreibt Wendland. Hinzu komme, dass die Kühltürme räumlich weit entfernt von den Reaktoren seien.
"Immer weniger Quellen vor Ort"
Für die Ursache des Feuers im Kühlturm sieht Wendland zwei Optionen. Ein Brand infolge einer Drohnenexplosion - wie Russland es der Ukraine vorwirft - hält die Expertin für nicht ausgeschlossen. Das hänge aber auch davon ab, ob die Inneneinrichtung des Kühlturms trockenes und leicht brennbares Material beinhaltet, was sich nicht nachvollziehen lasse.
Plausibel sei aber auch die Möglichkeit, dass russische Akteure den Brand vorsätzlich gelegt hätten - schließlich kontrollierten sie das Gelände. Das bekräftigt ebenso Dmytro Orlow, der im Exil lebende Bürgermeister von Enerhodar, wo sich das AKW befindet. Aufgrund der Besetzung sei die Informationslage äußerst schwierig. "Wir haben immer weniger Quellen vor Ort. Die Besatzer lassen nur noch Personen aufs AKW-Gelände, die einen Arbeitsvertrag mit ihnen abgeschlossen haben," sagt Orlow. "Vor der Invasion arbeiteten am AKW etwa 11.000 qualifizierte Kräfte. Derzeit sind es vielleicht noch 2.000."
Nach Wendlands Ansicht hat Russland ein Motiv für eine Brandlegung. In der russischen Region Kursk befindet sich die Ukraine auf dem Vormarsch, dem Moskau bisher wenig entgegenzusetzen hat. Putins Kalkül könnte also sein, mithilfe dramatischer Bilder am AKW Saporischschja von Kursk abzulenken und alteingesessene Sorgen im Westen zu bedienen - nicht zum ersten Mal, betont sie: "Die Russen bezwecken mit diesen Atom-Aktionen, den Gegner zu demoralisieren und seine Verbündeten zu entsolidarisieren."
Auch Kiew neigt zur Dramatisierung
Die Angst vor einem großen Reaktorunfall "könnte zum Beispiel Deutschland dazu bewegen, auf Kiew einzuwirken, Angriffe auf russisches Territorium einzustellen", vermutet die Expertin. Doch auch die ukrainische Seite habe bereits die Besetzung des AKW durch Russland für eigene Zwecke genutzt: Kiew neige mitunter "zur Dramatisierung der Vorfälle in Saporischschja, um an die Welt zu appellieren und Solidarität einzufordern. Doch damit dreht natürlich auch Kiew an der Angstspirale."
Nicht zum ersten Mal beschuldigen Russland und die Ukraine einander, rund um das AKW Saporischschja zu zündeln, um informationspolitisch zu profitieren. Was die Atomkraft- und Osteuropakennerin Wendland aber unterstreicht: Ohne Russlands Invasion samt der Besetzung des Kraftwerks gäbe es eine solche Situation überhaupt nicht. Auch Enerhodars Bürgermeister Orlow betont, dass vor allem eines der kompletten Wiederherstellung der nuklearen Sicherheit am AKW Saporischschja dienen würde: die Rückgabe des Kraftwerks an die Ukraine.