Asylsuchende schlafen am Straߟenrand in der Nähe des ausgebrannten Flüchtlingslagers Moria.
Analyse

Vorschläge der EU-Kommission Ist der EU-Migrationspakt umsetzbar?

Stand: 24.09.2020 15:08 Uhr

Mit ihren Vorschlägen für eine Asylreform will die EU-Kommission den Streit der Mitgliedsstaaten beilegen und die Flüchtlingsfrage solidarisch lösen. Aber wie realistisch ist das Konzept?

Die EU-Kommission schlägt vor, die Asylverfahren an den Außengrenzen zu beschleunigen. Menschen ohne Aussicht auf Asyl sollen schneller abgeschoben werden können. Ziel ist es, die Mittelmeeranrainer wie Italien und Griechenland zu entlasten und Dramen wie im griechischen Flüchtlingslager Moria auf Lesbos zu verhindern.

Die Asylzentren auf den griechischen Inseln in der Ägäis und anderswo dürften trotzdem bestehen bleiben - nicht umsonst wird auf Lesbos ein EU-Pilotprojekt gestartet und auf den anderen Inseln wie Samos an neuen Hotspot-Lagern weitergebaut. Denn am Grundprinzip der Dublin-Verordnung ändert sich nichts: Für Asylanträge ist weiterhin der Staat zuständig, in dem ein Migrant zuerst den Boden der EU betritt. Die Hauptlast sollen also nach wie vor die Länder Südeuropas tragen.

Prüfung der Identität im Eiltempo

Der Vorschlag der EU-Kommission sieht außerdem vor, dass alle Einreisenden künftig binnen fünf Tagen eine Vorprüfung, das sogenannte Pre-Entry-Screening, absolvieren. Es umfasst einen Gesundheitscheck und die Erfassung der Identität. Doch der Zeitrahmen erscheint extrem knapp: Denn in dieser Vorprüfung soll auch ermittelt werden, ob Asylsuchende tatsächlich Chancen haben oder ob sie zum Beispiel aus einem sicheren Drittland einreisen. Das ist allerdings gar nicht so einfach, wenn Menschen keinen Pass haben.

Wer aus einem Land mit hoher Anerkennungsquote kommt, soll später ein reguläres Verfahren erhalten. Wer aber aus einem sicheren Herkunftsland stammt und keinen Asylanspruch hat, soll binnen 12 Wochen durch ein beschleunigtes Grenzverfahren abgeschoben werden. Das Ganze soll in einer Art Transitbereich stattfinden, vermutlich in geschlossenen Internierungsunterkünften.

Unrealistischer Zeitrahmen

Völlig unklar ist, ob sich die Prüfung an der EU-Außengrenze so effizient und schnell durchführen lassen wird, wie es der Plan vorsieht. 12 Wochen sind nach Ansicht von Migrationsexperten wie etwa dem Grünen-Abgeordneten Erik Marquardt absolut unrealistisch - zumal alle geltenden Rechte für Asylsuchende gewahrt bleiben müssen.

Schon heute dauern solche Verfahren in der Realität deutlich länger: In Moria auf Lesbos warten Menschen derzeit teilweise mehr als ein Jahr auf eine Entscheidung. Selbst wenn das Prozedere der Anhörungen beschleunigt würde: Einerseits will man keine Fehlanreize für noch mehr Menschen schaffen, andererseits besteht bei großem Andrang oder Überforderung die Gefahr, dass es zu Staus kommt - und damit zu neuen Morias.

EU-Kommission kommt Osteuropäern entgegen

Nach dem neuen Kommissionsvorschlag sind die Mitgliedsstaaten nicht verpflichtet, Schutzbedürftige aufzunehmen. Mit dieser Regelung will die EU-Kommission all den Ländern eine Brücke bauen, die bisher kategorisch gegen Aufnahmequoten sind.

Bei starker oder sehr starker Migration können sich die Länder stattdessen zu "Abschiebe-Patenschaften" verpflichten: Sie organisieren dann die Abschiebung von illegalen Migrantinnen und Migranten und führen diese binnen acht Monaten durch. Wenn ein EU-Land diese Frist nicht einhält, muss es im Gegenzug Geflüchtete aufnehmen. Ein Land wie Ungarn wird nach dem Vorschlag der Kommission nun aktiv daran mitarbeiten müssen, Menschen abzuschieben - was ohnehin das Ziel vieler osteuropäischer Staaten ist.

Viele Länder könnten sich wegducken

Doch es besteht die Gefahr, dass sich diese Staaten indirekt über den Solidaritätsmechanismus "freikaufen". Was im Kommissionsvorschlag nach "Wer nicht aufnimmt, muss abschieben" klingt, dürfte in der Praxis nicht so einfach umsetzbar sein - zumal Regierungen wie die in Ungarn ohnehin ein innenpolitisches Interesse daran haben, dass die Migrationsfrage ungelöst bleibt.

Wie zudem sichergestellt werden soll, dass nicht am Ende ein großer Teil der EU-Länder "Rückführungspate" ist und sich wieder nur eine kleine Gruppe von Mitgliedsstaaten um die Aufnahme und Integration von Schutzbedürftigen kümmert, ist unklar. Nicht umsonst hat Bundesinnenminister Horst Seehofer unmittelbar nach der Vorstellung des Plans gefordert, die EU-Länder sollten sich "jetzt nicht direkt wegducken".

Rückführung nach Tunesien und Marokko schwierig

Die Kommission setzt in ihrem Vorschlag außerdem darauf, dass die Herkunftsländer oder sonstigen Drittstaaten abgelehnte Asylsuchende wieder zurücknehmen. Ein EU-Koordinator soll sich um solche Rückführungen kümmern.

Es gibt derzeit 24 sogenannte Migrationspartnerschaften mit Ländern, aus denen sich viele Menschen auf den Weg nach Europa machen. Viele funktionieren nach Aussage von EU-Innenkommissarin Ylva Johansson gut. Ausgerechnet mit Tunesien und Marokko tun sie es allerdings nicht - und das ist ein zentrales Problem: Denn gerade aus diesen beiden Ländern mit sehr niedriger Anerkennungsquote kommen sehr viele Menschen.

Die Rückführungen spielen im Konzept der EU-Kommission eine bedeutende Rolle, doch sie dürften noch lange Schwierigkeiten bereiten - auch wenn die Kommission bereits angedeutet hat, dass sie über finanzielle Hilfen, aber auch über Visavergabe "nachhelfen" will. Offen sind nach wie vor auch wichtige Fragen der Menschenrechte in den Drittstaaten, insbesondere bei der Zusammenarbeit mit Regimen wie jenem in Libyen.

Politische Einigung ist unwahrscheinlich

Es ist bislang offen, ob sich die Mittelmeeranrainer durch das Konzept der EU-Kommission ausreichend entlastet fühlen und am Ende zustimmen können. Vor allem aber hat sich die Hoffnung der Kommission, der neue Entwurf könne etwa Österreich und den Visegrad-Staaten besonders entgegenkommen, bereits zerschlagen.

Österreichs Kanzler Sebastian Kurz lehnte den Vorschlag schon vor der Präsentation ab und sagte, der Begriff "Solidarität" gehöre nicht in die Migrationsdebatte. Ungarns Ministerpräsident Victor Orban wiederum sieht keinen Durchbruch und pocht auf Aufnahmezentren außerhalb der EU. Und Tschechiens Ministerpräsident Babis weist den Vorschlag zurück, dass Länder, die keine Migranten aufnehmen möchten, auf eigene Kosten die Rückführung abgelehnter Asylbewerber sichern sollen: "Wenn wir keine Migranten aufnehmen, können wir sie auch nicht zurückschicken".

Obwohl die Migrationspolitik - anders als die Außenpolitik - eigentlich keine Einstimmigkeit der EU-Staaten erfordert, hat der letzte Anlauf im Jahr 2016 gezeigt, dass es ein faktisches Vetorecht gibt. Dass sich im Meinungsklima von 2020 alle 27 Mitgliedstaaten einigen, steht nicht zu erwarten.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 23. September 2020 um 20:00 Uhr und am 24. September 2020 WDR 5 um 07:07 Uhr im Morgenecho.