"Islamischer Staat" Was wurde aus dem IS-Kalifat?
Vor zehn Jahren wurde der sogenannte Islamische Staat ausgerufen. Im Irak und in Syrien ist die Miliz militärisch besiegt. Aber wo ist sie seitdem aufgestellt - und wie schlagkräftig ist sie noch?
29. Juni 2014: In der Stadt Mossul im Norden des Irak verkündet Abu Bakr al-Baghdadi - alias "Kalif Ibrahim, Befehlshaber der Gläubigen" - die Gründung des Kalifats "Islamischer Staat".
Weltweit sorgte al-Baghdadi mit diesem Auftritt für Aufsehen. Hans-Jakob Schindler, Terrorismusexperte bei der Organisation Counter Extremism Project, sagt, es sei entscheidend gewesen, dass das Kalifat in einer Moschee, auf einer Gebetskanzel ausgerufen wurde. Denn neben der ideologischen Funktion habe das Kalifat auch eine religiöse gehabt.
"Es gab den letzten Kalifen, der in den 1920er-Jahren in der Türkei abgesetzt wurde. Damit endete das Kalifat", erklärt Schindler. Die Ausrufung des Kalifats habe daran anknüpfen sollen. "Mit der Idee, weltweit eine neue politische Ordnung zu etablieren. Dieses Kalifat sollte sich dann ausbreiten vom Irak und Syrien über zunächst die islamische Welt und natürlich dann die ganze Welt - wie das immer bei diesen extremistisch, terroristisch-islamistischen Ideologien ist."
Globale Reichweite
Zum ersten Mal habe es damit eine dschihadistische Organisation mit globaler Reichweite gegeben, die in der Lage war, Kämpfer aus allen Ecken der Welt anzuziehen - und mit territorialer Kontrolle über Finanzen und Verwaltung, sagt Terrorismus-Experte Guillaume Soto-Mayor vom Middle East Institute. "Zudem konnte der IS einen sehr gut entwickelten internationalen Kommunikationsapparat einsetzen." Er sei damals sehr beunruhigt gewesen.
Der Aufstieg des Islamischen Staates löste weltweit Entsetzen aus. Das lag zum größten Teil daran, dass die IS-Kämpfer nicht nur brutal gegen ihre Gegner vorgingen: Sie schlachteten ihre Grausamkeit auch mit Videoaufnahmen propagandistisch aus. Alle, die ihrer Meinung nach ungläubig waren, sollten vernichtet werden - egal, ob Jesiden, Christen oder andere Muslime, ob Männer, Frauen oder Kinder.
Im März 2015 veröffentlichte das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte einen Bericht, in dem festgestellt wurde: Der IS begeht Völkermord. Besonders das Vorgehen gegen die Jesiden habe das Ziel, diese als ethnisch-religiöse Gruppe zu vernichten, so der Bericht. Außerdem wurden weitere Verbrechen wie Mord, Folter, Vergewaltigung, sexuelle Versklavung sowie erzwungene religiöse Konvertierung und Zwangsrekrutierungen von Kindern aufgezählt.
Terrormiliz mit Regierungsanspruch
Ein Merkmal des Kalifats: Anders als etwa bei Al Kaida habe jeder mitmachen können, sagt Schindler. Es habe eine erstaunlich große Welle von Ausländern, inklusive mehr als 1.000 Deutschen, gegeben, die sich auf den Weg in das Kalifat machten, um für das Kalifat zu arbeiten. "Und zwar auch schon zu einem Zeitpunkt, wo klar war, wie extrem brutal dieses Kalifat vorgeht. Es gab schon die Hinrichtungs- und Köpfungsvideos und Videos von Geiseln, die getötet worden sind."
Von vielen anderen Terrorgruppen unterschied den IS auch, dass er in seinem Kalifat nicht nur als Kampfgruppe, sondern auch als Regierungsmacht auftreten wollte. Der IS versuchte also, die Bevölkerung mit dem Nötigsten zu versorgen. Die Dschihadisten bezahlten Gehälter, lieferten Wasser, Strom und Gas, regelten den Verkehr, unterhielten Schulen, Universitäten, Moscheen, Banken und sogar Bäckereien.
In Syrien besiegt, doch Gefahr nicht gebannt
Mehrere Jahre lang überlebte der Möchtegern-Staat. Unter Führung der USA wurde die Terrormiliz seit 2015 von einer Anti-IS-Allianz bekämpft. Im März 2019 verloren die Dschihadisten ihr letztes Herrschaftsgebiet. Militärisch galt die Terrororganisation damit als geschlagen.
Danach wurden die Familien und Kinder der IS-Kämpfer in zwei großen Lagern in Nord-Ost-Syrien untergebracht. Diese Lager existieren bis heute und bilden eine Art Brutstätte für neue IS-Kämpfer.
Die Gefahr durch den IS sei bis heute nicht gebannt, sagt Terrorismusexperte Schindler. Der IS und auch Al Kaida seien in den vergangenen Jahren wieder erstarkt, auch durch den Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan und Mali.
"Wenn ich rein auf die Terrorsituation gucke, haben wir jetzt mehr terroristische Kämpfer, größere Gebiete unter Kontrolle, mehr finanzielle Ressourcen und Waffen als jemals in meiner professionellen Erinnerung. Und ich beschäftige mich mit dem weltweiten islamistischen Terrorismus seit Ende der 1990er-Jahre", so Schindler.
IS versucht weiter, Terroranschläge zu verüben
Soto-Mayor bestätigt die Einschätzung. Es gebe viele Regionen, in denen der IS noch eine beträchtliche territoriale Kontrolle hat, beispielsweise auf den Philippinen, in Westafrika oder der Sahara-Zone. Dort stünde noch eine beträchtliche Anzahl von Kämpfern bereit, und der IS verfüge dort auch über besorgniserregende finanzielle und technische Möglichkeiten.
"Aber der Verlust von Territorium in Syrien und im Irak bedeutet, dass sie sich im Moment auf kleine Strukturen verlassen müssen", sagt Soto-Mayor. Wenn sie in anderen Regionen aktiv werden wollten, müssten sie auf spontane Angriffe von Leuten setzen, die sehr oft psychische Probleme haben, etwa durch Messerattacken.
In Deutschland versucht der IS - unter anderem der Ableger IS Provinz Khorasan - schon seit Jahren, größere Anschläge zu verüben, erklärt Schindler. Das zeigten Verhaftungen in den vergangenen Monaten. Für die Sicherheitsbehörden sei dabei vorteilhaft, dass komplexe Anschläge viel interne Kommunikation erfordern. Das erhöhe die Chancen, die Vorbereitungen in einem relativ frühen Stadium zu erkennen. "Aber das heißt nicht, dass der IS aufgeben wird, größere Anschläge zu versuchen", so Schindler.
Auf Schlagzeilen angewiesen
Wie alle Terrororganisationen brauche auch der IS Schlagzeilen, wolle auf keinen Fall aus den Medien verschwinden, meint Schindler. Deshalb sei auch der blutige Anschlag im März dieses Jahres auf eine Konzerthalle bei Moskau mit mehr als 130 Toten aus Sicht des IS ein voller Erfolg.
Denn man müsse neue Sympathisanten gewinnen. "Man muss den Spendern, die schon Geld gegeben haben, zeigen, dass man noch Relevanz hat. Und man muss in den Medien bleiben, um neue Spender zu generieren." Der Anschlag in Moskau sei ein erster Versuch des IS, in den Medien wieder mehr Aufmerksamkeit als die palästinensischen Islamisten der Hamas zu bekommen.