Dumawahl in Russland "Man will nicht, dass es Augenzeugen gibt"
Russland wählt in dieser Woche ein neues Parlament, doch Oppositionelle und Beobachter seien unerwünscht, sagt Grigorij Melkonjanz von der unabhängigen Wahlbeobachter-Gruppe Golos. Er erklärt, wie die Manipulation schon vor der Abstimmung beginnt.
tagesschau.de: Russlands Wahlleiterin Ella Pamfilowa nennt Sie einen hochqualifizierten Experten und lobt Ihre Arbeit. Zugleich setzt das Justizministerium Golos auf die Liste der sogenannten ausländischen Agenten. Wie passt das zusammen?
Grigorij Melkonjanz: Die Entscheidung, Golos auf diese Liste zu setzen, befindet sich außerhalb der Kompetenz von Ella Pamfilowa - diese Prozesse steuern ganz andere Leute. Natürlich ist so etwas nicht förderlich für das Image dieser Wahlen, um die sich Pamfilowa sorgt. Sie versteht das und versucht, den Imageschaden irgendwie abzumildern. Denn "Golos" ist in Russland die führende Wahlbeobachtungsorganisation - und wenn die Regierung sie aus völlig unerfindlichen Gründen in dieses Register einträgt, ist das ein Signal, dass Regelverstöße und Wahlfälschungen zu erwarten sind. Das heißt: Man will nicht, dass es Augenzeugen gibt, wie diese drei Abstimmungstage verliefen.
tagesschau.de: 2013 stand Golos erstmals auf dieser Liste. Was hat sich nun geändert?
Melkonjanz: 2013 wurde die Organisation Golos mit einer Geldstrafe belegt, weil sie angeblich Geld aus dem Ausland erhalten habe. (Ein Jahr zuvor hatte Golos den Sacharow-Preis des norwegischen Helsinki-Komitees gewonnen; Anmerkung der Redaktion.) Golos gelang es, das Gericht zu überzeugen, dass es keine strafbare Finanzierung aus dem Ausland bekommen hatte, denn Golos hat das mit dem Sacharow-Preis verbundene Preisgeld nicht angenommen. Die Geldstrafe wurde auf dieser Grundlage nichtig - aber das Justizministerium weigerte sich viele Jahre, uns aus dem Register zu streichen. 2013 wurde Golos als Organisation aufgelöst - aber in all den Jahren seitdem hat unsere Bewegung sogar effektiver gearbeitet als davor. Jetzt hat man sich das nächste Register ausgedacht, in dem jetzt Golos als Bewegung steht - zusammen mit verschiedenen Bürgerinitiativen und Organisationen, die ohne Registrierung tätig sind.
Grigorij Melkonjanz ist einer der Vorstandschefs der unabhängigen Wahlbeobachter-Gruppe Golos (auf Deutsch: Stimme), die in Russland Wahlen und Abstimmungen aller politischen Ebenen beurteilt und Regelverstöße dokumentiert. Sie schickt auch Eingaben an die Zentrale Wahlkommission und wird in Russland von Staatsmedien oft als ausländischer Manipulator diskreditiert.
"Die Leute wissen schon Bescheid"
tagesschau.de: Wie wirkt sich der juristische Status als "ausländischer Agent" konkret auf Ihre Arbeit aus?
Melkonjanz: Alles hängt von den staatlichen Organen - den Sicherheitsbeamten, dem Justizministerium, der Wahlkommission - ab, die diesen Status gegen unabhängige Beobachter benutzen werden. Das Gesetz sieht erstens vor, dass all unser Material mit dem Hinweis gekennzeichnet ist, dass unsere Organisation in diesem Register steht. Zweitens muss jedes Quartal ein ziemlich umfangreicher Rechenschaftsbericht an das Justizministerium vorgelegt werden. Drittens: Beim Briefwechsel mit Behörden müssen wir in unseren Nachrichten auch angeben, dass wir auf diesem Register stehen. Ob das zu weiteren Problemen führt, ist offen. Aber die Propaganda benutzt diesen Rechtsstatus schon, um unsere Arbeit zu diskreditieren. Golos wird als Handlanger irgendwelcher westlicher Staaten und Geheimdienste dargestellt.
tagesschau.de: Verfängt diese Diskreditierung in den Wählerköpfen?
Melkonjanz: Es wird aus meiner Sicht immer schwieriger für sie. Denn laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums - das ebenfalls zum Agenten erklärt wurde - meinen 40 Prozent der Befragten, dass dieser Status gezielt gegen Organisationen gerichtet wird, um sie zu schwächen - konkret gegen unabhängige Menschenrechtsorganisationen. Die Leute wissen schon Bescheid, dass dieser Status kein echtes Kennzeichen ist, dass diese Organisationen böse wären - sondern das Gegenteil: dass der Staat damit Druck auf unabhängige Organisationen macht.
"Wahltouristen, die herumkutschiert werden"
tagesschau.de: In diesem Jahr wird die OSZE keine Beobachtermission nach Russland entsenden. Wird es überhaupt eine unabhängige Wahlbeobachtung geben?
Melkonjanz: Die russische Seite hat der OSZE Anforderungen gestellt, die die OSZE unmöglich einhalten konnte. Deswegen wurden sie auch gestellt, wohlwissend, dass die OSZE ein solches Format ablehnen wird. Wenn in einer Waagschale ein Bericht des OSZE-Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte liegt, wo diverse Probleme und Regelverstöße aufgezeigt werden, und in der anderen Waagschalte Reputationsrisiken, wenn man das OSZE-Büro nicht einlädt - dann hat man dieses Mal entschieden, dass man sich lieber auf Reputationsrisiken einlässt.
Es wird Beobachter aus anderen Strukturen geben, zum Beispiel aus den GUS-Organisationen, einzelne Beobachter aus anderen Ländern, bevollmächtigte Vertreter. Eine andere Frage ist, ob ihre Einschätzung international Gewicht haben wird. Die meisten Parlamentarier und anderen Gäste, die in unser Land mit dem Status "Wahlbeobachter" kommen, sind mehr oder weniger Wahltouristen, die herumkutschiert werden und sehen, wie "gut" alles ist. Sie sind keine geschulten Beobachter und vollbringen eher eine Art diplomatische Arbeit.
tagesschau.de: Wo sehen Sie bei der Dumawahl das größte Einfallstor für Manipulationen?
Melkonjanz: Wahlen bestehen nicht nur aus den Abstimmungstagen. Man versucht uns oft zu überzeugen, dass die Wahlen ehrlich abgelaufen sind, wenn keine massenhaften Fälschungen festgestellt wurden. Aber das Hauptproblem ist bei uns die Zeit vor der Abstimmung.
Erstens gibt es eine Änderung der Gesetzgebung, die de facto die Zahl der Menschen enorm vergrößert, die kein Recht mehr haben an den Wahlen teilzunehmen - was das passive Wahlrecht angeht. Unseren Zahlen nach sind das etwa neun Millionen Menschen. Denen, die nicht von der Abstimmung ausgeschlossen sind, wird die Registrierung als Kandidat vorenthalten - überall da, wo tatsächliche Konkurrenz entstehen könnte.
Wir stellen fest, dass eine große Zahl Politiker und Bürger, die sehen, was da abläuft, gar nicht mehr versuchen, an der Wahl teilzunehmen. Sie wissen: Wenn sie wirklich eine Konkurrenz für einen Regierungskandidaten darstellen, werden sie geschäftliche Probleme bekommen, angeklagt werden oder in sonstige Schwierigkeiten geraten. Die furchtlosen Menschen, die noch immer antreten, haben mit heftigem Gegenwind zu kämpfen, wie wir jetzt beobachten.
Das nächste Problem ist der ungleiche Zugang zu Nachrichtenmedien: Auf dem "Ersten Kanal" (populärer staatlicher Sender, Anmerkung der Redaktion) bekommen die Kandidaten von "Geeintes Russland" doppelt so viel Sendezeit, werden doppelt so oft erwähnt wie andere Wahlteilnehmer. Und das betrifft nicht nur die Hauptsender, sondern auch Regionalsender.
"Kaum im Bewusstsein, wer kandidiert"
tagesschau.de: Was macht das mit den oppositionellen Kandidaten?
Melkonjanz: Wer von den oppositionellen Kandidaten diese Filter durchdringen kann, hat mit enormem Gegenwind zu kämpfen. Und die Corona-Beschränkungen in den Regionen machen es noch schwieriger, weil es praktisch nicht möglich ist, öffentliche Veranstaltungen abzuhalten. Einen normalen Wahlkampf können die wenigsten oppositionellen Kandidaten abhalten. Sie sind auf kleine lokale Aktionen und Veranstaltungen beschränkt. Im Endeffekt bleibt ihnen nur noch das Internet, um für sich zu werben.
Deshalb kann es sein, dass sich beim Wähler gar nicht das Bewusstsein einstellt, dass außer "Geeintes Russland" überhaupt wer an der Wahl teilnimmt. Von anderen Parteien und Kandidaten hören sie so gut wie nichts.
tagesschau.de: Wie planen Sie unter diesen Umständen Ihre Arbeit fortzusetzen? Welche Möglichkeiten haben Sie noch?
Melkonjanz: Wir machen weiter wie bisher. Die Organisation Golos zu schließen, ist nicht schwer. Wenn die Regierung das will, kann sie das - Mittel hat sie dazu genug. Was das über die Wahlen aussagt, ist eine andere Frage. Bislang gibt es offizielle und inoffizielle Versuche, uns an unserer Arbeit zu hindern. Vielleicht fällt ihnen noch etwas ein, um Druck auf uns auszuüben. Bislang arbeiten wir gezwungenermaßen unter Einhaltung dieser Regeln, die mit der Listung als "ausländischer Agent" einhergehen. Wir werden unser Material entsprechend kennzeichnen, Rechenschaft ablegen - und sehen, was passiert.
Das Gespräch führte Jasper Steinlein, tagesschau.de, für das ARD-Studio Moskau.