Referendum zu Atomkraft Kasachstan entscheidet über neues AKW
Die kasachische Ortschaft Ulken sollte erst ein Kohlekraftwerk bekommen, dann ein Heizkraftwerk. Beide Vorhaben scheiterten. Nun ist ein Atomkraftwerk ihre letzte Hoffnung. Heute stimmt Kasachstan über das Vorhaben ab.
Auf einer malerischen Halbinsel im Osten Kasachstans befindet sich die Ortschaft Ulken. Sie steht am Abzweig der nahegelegenen großen Nord-Süd-Autostraße, die Astana mit Almaty verbindet. Im Hintergrund schimmert hellblau der Balchaschsee. Strommasten begleiten die Stichstraße nach Ulken wie eine Allee. Direkt vor dem Ortseingang steht ein großes Umspannwerk.
Ulken selbst besteht aus Schlaglochpisten und schmucklosen Plattenbauten, 31 sind es insgesamt. Nahe am Seeufer stehen zwei markante betongraue 11-Etagen-Klötze - früher Wohnheime, heute stehen sie leer. Auch in den oberen Etagen der anderen Wohnblöcke zeigen zerschlagene oder fehlende Fensterscheiben: Hier wohnt niemand mehr.
In einer kleinen Wohnung im ersten Stock eines noch bewohnten Gebäudes hat sich der Bürgermeister von Ulken, Kenschemurat Kassenow, mit seiner Verwaltung einquartiert. Im Flur prangt das Stadtwappen: in der unteren Hälfte dunkelblaues Wasser mit zwei Fischen, darüber ein stilisierter Hochspannungsmast.
Bürgermeister Kenschemurat Kassenow
Einwohnerzahl von 10.000 auf 1.700 zurückgegangen
In der 1980er-Jahren sollte in Ulken ein Kohlekraftwerk entstehen, berichtet Kassenow. Fachleute aus der gesamten Sowjetunion zogen nach Ulken. "Anfang der 1990er-Jahre lebten hier etwa 10.000 Menschen", so der Bürgermeister weiter. "Alle Häuser waren voll".
Mit dem Zerfall der Sowjetunion wurde das Kraftwerksprojekt gestoppt. Die Menschen verloren ihre Arbeit, viele zogen weg. Ein zweiter Versuch mit einem Heizkraftwerk wurde in den 1990er-Jahren ebenfalls abgebrochen. "Heute sind hier noch 1.700 Menschen gemeldet", berichtet Kassenow.
Neben aufgegebenen Geschäften und zugemauerten und vermüllten Hauseingängen finden sich vor den noch bewohnten Häusern auch gepflegte kleine Vorgärten. Es gibt eine Schule, eine kleine Ambulanz wird derzeit gebaut. Dennoch: überwiegend herrscht Perspektivlosigkeit.
Referendum ohne Gegenwind
Nun soll Rettung für Ulken kommen: In Form eines Referendums, das Kasachstans Präsident Kassym-Schomart Tokajew Anfang September eilig einberufen hat. Die Wählerschaft Kasachstans stimmt über den Bau eines Atomkraftwerks ab. Wie überall im Land werben auch in Ulken große Plakate für die AKW-Zukunft. Eine Gegenposition findet sich nicht im öffentlichen Raum. Es gibt aber ohnehin keinen Zweifel, dass Präsident Tokajews AKW-Projekt bestätigt wird.
Ulken, die zweimal knapp gescheiterte Kraftwerksstadt, gilt dafür als Standtort Nummer eins. Rentner Sergej, glühender Atomkraft-Befürworter: "Hier ist ein solider Monolith-Boden, eine gute Voraussetzung für den AKW-Bau. Und der Standort Ulken wurde damals nicht umsonst ausgesucht. Hier steht ja bereits die Umspannstation, die den Strom Richtung Norden und Süden verteilen kann. Wenn das Kraftwerk hier entsteht, ist das eine sehr gute Sache."
Das Umspannwerk vor der Ortschaft Ulken
"Reichtum unter der Erde"
Das sieht auch Rahima Kairbekowa so. Von ihrem Balkon im vierten Stock hat sie einen traumhaften Blick auf den riesigen Balchaschsee. Die frühere Ingenieurin ist große AKW-Anhängerin. Sie freut sich sogar, dass dort vorne am Ufer bald das Kraftwerk stehen könnte - wenn auch erst nach 15 Jahren Bauzeit und einer zweistelligen Milliarden-Euro-Investition. Aber es wird sich um das erste Atomkraftwerk des modernen Kasachstan handeln.
Gott habe Kasachstan Reichtum unter der Erde beschert, sagt sie. Das Land belegt bei Uran-Vorkommen den zweiten Platz weltweit. "Stellen Sie sich vor, unter Ihren Flüssen läge Gold und Sie würden das nicht nehmen. Warum?", fragt die Rentnerin.
Kritiker äußern Bedenken
Es gehe hier ausdrücklich um die friedliche Nutzung der Kernkraft, so Kairbekowa. Auch der künftige Atommüll sei kein Problem: Die Menge an Abfällen sei gering, man könne sie recyceln und in der Medizin verwenden.
Kritiker warnen jedoch, der Balchaschsee sei keine gute Wahl, um für die zuverlässige Kühlung des AKW zu sorgen. Zwar ist er fast zehnmal so lang wie der Bodensee, doch der Wasserspiegel sinkt seit Jahren. Sein Zufluss, der 1.000 Kilometer lange Ili, wird schon in China gedrosselt und für die Bewässerung genutzt. Außerdem wird auf kasachischer Seite zu wenig Wasser gespart. Umweltschützer warnen, dem Balchaschsee drohe das Schicksal des Aralsees: Das künftige AKW könnte dann ohne Kühlwasser dastehen.
Viele der Wohnhäuser in Ulken stehen leer, seit der Bau von zwei Kraftwerken abgebrochen wurde.
Letzte Hoffnung AKW
Bürgermeister Kassenow steht trotzdem hinter dem AKW-Plan: "Die Siedlung gilt heute als subventionsbedürftig. Die Kreisverwaltung finanziert den ganzen Komplex, wie etwa Wasser- oder Stromversorgung." Ohne diese Hilfe würde hier heute schon niemand mehr wohnen.
Das AKW könnte also die letzte Hoffnung für Ulken sein - die 40-jährige Kraftwerkssiedlung ohne Kraftwerk.