Ein Monat Proteste im Iran Kluft zwischen den Jungen und den "greisen Männern"
Seit einem Monat ebben im Iran die Proteste nicht ab: Aus Wut über den Tod einer jungen Frau wurden Forderungen nach einem Regime-Ende laut. Ob die Demonstrierenden das erreichen, hängt laut Experten von mehreren Faktoren ab.
"Tod Khamenei" - Tod dem geistlichen und obersten Führer, rufen Demonstrierende im Iran bei einem größeren Protest. Zuletzt gab es häufiger mehrere kleine Aktionen, zum Teil sollen sie nur wenige Minuten gedauert haben, wie Nadelstiche gegen ein übermächtiges Regime.
Seit dem Tod der 22 Jahre alten Mahsa Jina Amini Mitte September zieht es Menschen in vielen Städten auf die Straße. Ihnen geht es längst nicht mehr nur um den Tod Aminis in Polizeigewahrsam oder um die Lockerung von Bekleidungsvorschriften.
Den Demonstrierenden geht es um Grundsätzliches, sagt der Politikwissenschaftler Ali Fatollah Nejad kürzlich in den tagesthemen: "Wir haben es zweifelsohne mit einem revolutionärem Prozess in Iran zu tun." Revolution, Umsturz, letztlich ein Ende der Islamischen Republik Iran in ihrer heutigen Form.
Wichtige Rolle Studierender
Die meisten Menschen beteiligen sich nicht direkt an den Protesten. Aber Autofahrer hupen aus Solidarität. Passanten mischen sich ein, wenn etwa eine Frau ohne Kopftuch gejagt wird. Bei den Demonstrationen sind vor allem junge Menschen auf der Straße, Frauen und Männer. Viele sind Studierende. Von denen gingen die großen Proteste 1999 aus.
Doch zuletzt haben sie sich zurückgehalten, sagte die Kölner Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur Anfang Oktober: Zu groß sei das Druckmittel gewesen, sie einfach von der Universität zu werfen. Dass die Studierenden jetzt wieder dabei seien, spreche für eine neue Qualität der Proteste - denn ihre große Zahl sei ein wichtiger Faktor: "Wenn die auf die Straße gingen, dann könnte es tatsächlich zu der immer mal wieder beschworenen kritischen Masse kommen, die es bräuchte, um das Regime zu stürzen."
Ob das erreicht werde, sei jedoch zweifelhaft. Denn das Regime begegnet Protesten mit aller Härte.
Viele Tote bei Protesten
Hinter den Demonstrationen steckten ausländische Mächte, behauptet der oberste Führer des Landes, Khamenei: "Das ist keine inländische, spontane Angelegenheit. Die Aktionen des Feindes, seine Propaganda, seine Bemühungen, die Gedanken der Menschen zu beeinflussen und aufzuwühlen, die Art und Weise, wie er den Menschen sogar beibringt, wie man etwa Molotowcocktails baut - das ist völlig klar und offensichtlich."
Weit mehr als 100 Menschen sind bei den Protesten bisher ums Leben gekommen; Menschenrechtsorganisationen sprechen teils von mehr als 200, darunter auch Polizisten. Nach Angaben von Amnesty International sind bei den Protesten bisher 23 Kinder getötet worden.
Der Polizeichef sagt, das Volk sei vor Umstürzlern zu schützen. So sieht es auch der oberste Richter im Land, Mohseni Ejei, bietet aber an, mit Kritikern zu reden und "Schwachstellen" zu beheben: "Wenn es wirklich Kritik und Protest gibt, werden wir das natürlich akzeptieren und gegebenenfalls unsere Fehler korrigieren." Zuletzt befiehlt er jedoch, gegen Anführer der Proteste harte Strafen zu verhängen.
"Eklatante Kluft" im Land
Für Dialog im Land scheint es zu spät zu sein. Zu entschlossen sind offenbar auch die Protestierenden. Natürlich stehen längst nicht alle der mehr als 80 Millionen Menschen im Land auf ihrer Seite. Doch Bilder von gejagten und gepeitschten Studierenden schaffen Solidarität - auch in Teilen der Bevölkerung, die bisher nichts mit den Protesten zu tun haben, so Islamwissenschaftlerin Amirpur.
Das könne dem Regime gefährlich werden. Aber Amirpur glaubt auch, dass die sogenannten Revolutionsgardisten bis zum Letzten kämpfen würden, um das Regime zu erhalten. Zu groß seien ihre Pfründe und zu groß das Leid, das sie den Menschen zugefügt hätten: "Sie wissen, sie können quasi nichts anderes tun außer kämpfen, weil man ihnen einfach nicht vergeben wird, was sie dieser Bevölkerung angetan haben."
Auch wenn es nicht zu einer neuen Revolution im Iran kommen sollte: Die Gesellschaft ist gespalten - und zwar jenseits von politischen Meinungen, sagt Politikwissenschaftler Fatollah Nejad: "Wir sehen eine eklatante Kluft zwischen einer überwiegend jungen Bevölkerung und einer Herrscherkaste von alten greisen Männern."