Verschwundene Studenten in Mexiko Zehn Jahre zwischen Hoffnung und Frustration
Vor zehn Jahren verschwanden in Mexiko 43 Studenten spurlos. Bis heute ist der Fall ungeklärt, Informationen über die Verstrickung des Militärs werden zurückgehalten. Und immer noch verschwinden täglich Menschen.
"Wir werden den 26. September nie vergessen. An diesem Tag werden wir immer gemeinsam kämpfen", ruft María de Jesús Tlatempa aus vollem Hals - im Sprechchor zusammen mit weiteren Eltern der 43 Studenten von Ayotzinapa.
Ihr Sohn José Eduardo ist heute vor zehn Jahren verschwunden. Nach wie vor kennt sie nicht die Wahrheit über das, was geschehen ist. Sie leidet unter der Ungewissheit. "Lebend haben sie sie mitgenommen, lebend wollen wir sie wiederhaben", skandiert die Mutter.
Daran will Tlatempa unbedingt festhalten, solange man ihren Sohn und die anderen Studenten nicht gefunden hat. Nach seinem Verschwinden hat sich alles verändert, ihr Leben dreht sich nur noch um die Suche.
Von Polizisten den Kriminellen übergeben
José Eduardo war 19 Jahre alt, als ihn seine Mutter zum letzten Mal sah. Die Studenten des ländlichen Lehramtsseminars von Ayotzinapa verschwanden in der Nacht vom 26. auf den 27. September 2014 in der Stadt Iguala. Sie waren von Polizeikräften angegriffen und später der kriminellen Organisation Guerreros Unidos übergeben worden. Sechs Menschen kamen in dieser Nacht ums Leben, weitere wurden schwer verletzt.
Der Fall der 43 verschwundenen Studenten gilt in Mexiko als emblematisch für die Verstrickung von organisiertem Verbrechen und staatlichen Sicherheitskräften.
Präsident löste Versprechen von Aufklärung nicht ein
Der scheidende mexikanische Präsident, Andrés Manuel López Obrador, hat zwar offiziell anerkannt, dass es sich um ein Staatsverbrechen handelt. Nachdem sein Vorgänger Enrique Peña Nieto versucht hatte, die Geschehnisse zu vertuschen, richtete er sogar eine Wahrheitskommission ein.
Doch am Ende habe auch AMLO, wie der Präsident kurz genannt wird, sein Versprechen nicht eingelöst, meint María Luisa Aguilar Rodríguez vom Menschenrechtszentrum Miguel Agustín Pro Juárez.
Zu Beginn seiner Amtszeit habe es Anstrengungen zur Wahrheitsfindung gegeben. In den letzten zwei Jahren habe aber auch die Politik versucht, sich über die strafrechtlichen Ermittlungen zu stellen und die Justiz zu behindern.
Militär behindert Ermittlungen
Hinzu kommt, dass auch die Armee die Ermittlungen extrem behindert habe, sagt Rodríguez. "Sie haben zum Teil Informationen, die nützlich sein könnten, um mehr über den Verbleib der Studenten zu erfahren, nicht herausgegeben." Verantwortliche hätten auch versucht, um jeden Preis die Armeemitglieder zu schützen, die mit dem Organisierten Verbrechen in Verbindung gebracht würden, so die Menschenrechtlerin.
Auch die unabhängige Expertengruppe GIEI, die von der Interamerikanischen Menschenrechtskommission ins Leben gerufen wurde, hatte in ihrem Bericht darauf hingewiesen, dass das Militär nicht nur passiv war, sondern aktiv Informationen zurückgehalten hat, die zur Rettung der Studenten hätten führen können.
Angehörige der Opfer sind über die langsamen Fortschritte bei den Ermittlungen und die unzureichende Aufklärung der Rolle des Militärs frustriert. Sie fühlen sich betrogen und fordern die Herausgabe von 800 Militärdokumenten, die das gewaltsame Verschwinden der Studenten dokumentieren sollen. Doch die Akten werden zurückgehalten.
Präsident spielt Verantwortung des Militärs herunter
Der Präsident will von derartiger Kritik nichts hören. In seiner Amtszeit hat er das Militär immer weiter gestärkt, jetzt soll sogar das zivile Organ, die Nationalgarde, dem Verteidigungsministerium unterstellt werden.
In seiner morgendlichen Pressekonferenz rühmt er sich wenige Tage vor seinem Abtritt für seine Erfolge und spielt die Verantwortung des Militärs einmal mehr herunter. Illegale Handlungen einiger Mitglieder der Armee könnten das Ansehen dieser Institution nicht beeinträchtigen.
"151 Personen werden wegen ihrer mutmaßlichen Beteiligung am Verschwinden der Studenten strafrechtlich verfolgt, darunter 134 Zivilisten und 16 Militärangehörige, zwei Generäle und ein Mitglied der Marine", betont der Präsident.
Es ist ein Affront für die Familienangehörigen. Bisher wurden nur die Überreste von drei der Studenten identifiziert: Jhosivani Guerrero im letzten Jahr, Christian Rodríguez im Jahr 2020 und Alexander Mora im Jahr 2014.
Jede Stunde verschwindet ein Mensch in Mexiko
Währenddessen verschwindet in Mexiko durchschnittlich jede Stunde eine Person: Männer, Frauen, Jugendliche und selbst Kinder. Alles gehe einfach unvermindert weiter, kritisiert die Investigativ-Journalistin und Autorin Marcela Turati: der Drogenschmuggel, das Verschwinden von Menschen - und die Medien würden zum Schweigen gebracht. "Es gibt Drohungen. Journalisten, die zu diesen Themen recherchieren, werden umgebracht. Es ist daher schwierig, davon überhaupt etwas mitzubekommen."
Seit Jahren recherchiert Turati zum gewaltsamen Verschwindenlassen. Sie ist die Mitbegründerin des Journalistennetzwerks Quinto Elemento Lab. Die neueste Studie der Investigativplattform zeigt, dass sich die Krise unter Präsident López Obrador noch weiter zugespitzt hat.
Etwa 51.000 der mehr als 115.000 Opfer sind in der Amtszeit von López Obrador verschwunden. Eine Mammutaufgabe für die neue Präsidentin Claudia Sheinbaum, die ihr Amt am 1. Oktober antreten wird. Bislang hat sie sich bei diesen Themen lieber bedeckt gehalten.