Mexiko-Stadt Digitale Nomaden verdrängen Mexikos Mieter
Mexiko-Stadt ist zu einer der lebenswertesten Metropolen für wohlhabende Ausländer avanciert. Was die einen freut, bedeutet für andere: Räumung, Verdrängung, Wohnungsnot. Und die Stadtregierung fördert die extreme Gentrifizierung.
Sonntagnachmittag in Santa Maria La Ribera, einem Stadtteil im nördlichen Zentrum von Mexiko-Stadt. Allwöchentlich legt hier DJ Joel Garcia Flores die beliebtesten Schallplatten mit tropischen Klängen auf. Dazu tanzen jede Woche vorwiegend Senioren um den historischen Platz, dessen Mitte eine Art Kuppelhalle im maurischen Stil aus dem 19. Jahrhundert schmückt.
Seit 13 Jahren gibt es bereits die Tradition. Doch sie ist in Gefahr. Anwohner wie Garcia Flores sollen vertrieben werden. Eines Tages standen vor seinem Haus die Abrissbagger - ohne Vorwarnung, erzählt er: "Im Hof hinter unserem Haus wollte ein Immobilienunternehmen ein luxuriöses Loft bauen. Die Polizei kam, schmiss unsere Sachen auf die Straße und wir mussten gehen."
Der DJ hatte Glück, er konnte mit seiner Familie zu seiner Großmutter ziehen. Doch den meisten Nachbarn, die ähnliches erleben, bleibt nur noch der Wegzug in die Peripherie.
Allwöchentlich legt hier DJ Joel Garcia Flores die beliebtesten Schallplatten mit tropischen Klängen auf. Dazu tanzen vorwiegend Senioren.
Kein Gesetz schreibt Mietverträge vor
Seit 2019 gab es mehr als 3.000 offizielle Zwangsräumungen. In der Millionenmetropole hätten die Anwohner kaum die Möglichkeit, ihre Rechte durchzusetzen, kritisiert Daniela Sanche Carro, Mietrechtsanwältin und Beraterin für Betroffene:
Es fehlen die einfachsten juristischen Standards für das Wohnrecht. Ich würde mit dem grundlegendsten anfangen: Ein Gesetz schaffen, damit Mietverträge Pflicht werden und die Miethöhe festgeschrieben wird.
Im Interesse der Verantwortlichen in der Stadt ist das nicht. Die Bezirksbürgermeisterin von Santa Maria La Ribera, Sandra Cuevas, hat andere Ziele: aus den urigen Kiezen mit gewachsener Nachbarschaft elegante Viertel entwickeln.
Cuevas begleitet die Räumungen teils selbst mit, medienwirksam in militärische Kluft gekleidet. Im Frühjahr forderte sie auf einer Immobilienmesse Investoren aus aller Welt dazu auf, Mexiko-Stadt zu erobern.
Seit 2020 lockten die weltweit einzigartig laxen Covid-19-Regeln digitale Nomaden, sich in Mexiko-Stadt anzusiedeln. Der Immobilienmarkt ist entsprechend ausgerichtet.
Renovierter Jugendstil und Art-Deco-Häuser
Etwa ein Drittel aller Einwohner von Mexiko-Stadt musste nach Angaben der Nichtregierungsorganisation Coalición Internacional para el Hábitat (HIC) während der Pandemie die Stadt verlassen. Viel Platz für ein neues Klientel: wohlhabendere Ausländer. Seit 2020 lockten die weltweit einzigartig laxen Covid-19-Regeln digitale Nomaden, sich in Mexiko-Stadt anzusiedeln.
Besonders beliebt, neben Santa Maria La Ribera: die zentralen Viertel Juárez, Polanco, Condesa oder Roma. Die gleichnamige Netflix-Produktion "Roma" von 2018 hat die Entwicklung befeuert. In Schwarz-Weiß wird das koloniale Mexiko der 1970er-Jahre romantisiert.
Bis heute hat sich der Charme gehalten: renovierte Jugendstilvillen und Art-Deco-Häuser mit den typischen deckenhohen Fenstern, eingefasst in Metallrahmen im Industrial-Chic. Vor der historischen Kulisse hat sich das Leben gewandelt.
Englisch hat vielerorts Spanisch als Umgangssprache abgelöst. Hippe Boutiquen, trendige Café-Ketten mit Matcha-Latte, Yoga-Workshops im Park prägen das Bild.
Vorwiegend Senioren treffen sich allwöchentlich zu Tanzveranstaltungen um den historischen Platz .
Lockere Einreisebestimmungen locken
Auch die US-Amerikanerin Avery hat das Idyll angezogen. Die 31-Jährige arbeitet als Selbstliebe-Coach. "Als ich nach Mexiko-Stadt gekommen bin, habe ich instinktiv entschieden: Hier will ich leben. Ein Hauptgrund ist das Wetter, ich liebe das Essen", erzählt sie. "Obwohl es eine der größten Städte der Welt ist, fühle ich mich geerdet. Und hier ist eine riesige Expat-Community."
Avery hat ein Touristenvisum. Die lockeren Einreisebestimmungen erlauben es, dieses Visum nach sechs Monaten durch Aus- und Wiedereinreise unbegrenzt zu verlängern. Steuern zahlen die meisten Zugezogenen damit nicht.
Wie Avery arbeiten sie freiberuflich, international, digital. Offizielle Zahlen gibt es nur über temporäre oder permanente Aufenthaltsgenehmigungen: Nach offiziellen Zahlen der staatlichen Statistikbehörde haben sich in den letzten zwei Jahren die Zahlen der Kanadier und US-Amerikaner, die mit diesen Genehmigungen nach Mexiko-Stadt gezogen sind, mehr als verdoppelt.
Keine Regularien für Airbnb-Anbieter
Laut einer aktuellen Umfrage unter 14.000 sogenannten Expats ist Mexiko-Stadt inzwischen weltweit auf Platz 3 der lebenswertesten Städte nach Dubai und Valencia. Expats, das sind privilegierte Migranten, die mühelos mit ihrem Pass von Ort zu Ort ziehen können, oft mehrere Sprachen beherrschen und von überall arbeiten können.
Viktoria ist eine von ihnen. Auf die Frage, wo sie herkommt, sagt die Vielgereiste: "From Planet Earth", "Weltbürgerin" sei sie. Mit ihrem Freund mietet sie 150 Quadratmeter für 1.800 Euro. Zum Vergleich: Mexikaner verdienen in der Hauptstadt monatlich etwa 400 Euro - weniger als ein Viertel ihrer aktuellen Monatsmiete.
Auch der Wohnungsanbieter Airbnb hat diese Kaufkraft erkannt. Aktuell gibt es 20.000 Airbnb-Angebote in Mexiko-Stadt, zehn Prozent mehr als 2019. Bis zu zehnmal mehr können die Anbieter damit verdienen als mit einheimischen Mieten.
Noch vor einigen Monaten förderte das die ehemalige Bürgermeisterin Claudia Sheinbaum: Sie nannte die Entwicklung "kreativen Tourismus" und unterstützte Eigentümer beim Ausbau ihrer Wohnungen zum Airbnb. Ihr Amt hat Sheinbaum inzwischen abgegeben - um für die Präsidentschaftswahl 2024 kandidieren zu dürfen. Ihre Politik verfolgt die Stadt aber weiterhin.
Die Künstlerin Sandra Valenzuela hat eine Schutzpatronin gegen die Gentrifizierung erfunden - die Patrona Santa Marí La Juaricua.
Schutzheilige gegen Gentrifizierung
Die Macht, die das Thema habe, hat die Politik noch nicht verstanden, sagt die Künstlerin Sandra Valenzuela: "Die digitalen Nomaden wählen hier in Mexiko nicht. Die, die die Politiker wählen, das sind die Vertriebenen, wenn sich ihre Wohnung in ein Airbnb verwandelt. Eigentlich wäre es ein politisch sehr attraktives Thema."
Gemeinsam mit Jorge Baca hat die Künstlerin eine Schutzpatronin gegen die Gentrifizierung erfunden - die Patrona Santa Marí La Juaricua. In Mexiko ist Heiligenverehrung Teil der Folklore. Santa Marí La Juaricua ist ein Symbol, auf einem Altar ist die Hipster-Heilige mit runder Brille und großem Hut drapiert. Sie soll auch schon Jüngern geholfen haben, einer Räumung zu entgehen, raunt Baca. Wenn der Protest verhallt und Petitionen ignoriert werden in Mexiko-Stadt, dann hilft wohl nur noch beten.