Lateinamerika Warum Ecuador in Gewalt versinkt
Aus dem friedlichen und aufstrebenden Ecuador ist eines der gefährlichsten Länder Lateinamerikas geworden. Drogenbanden unterwandern staatliche Institutionen und terrorisieren die Bevölkerung. Jetzt schlägt der Staat zurück.
Alina Manrique musste sich mit ihren Kollegen auf den Boden des Nachrichtenstudios setzen, als die 13 maskierten und schwer bewaffneten Männer den Sender stürmten.
Die Redaktionsleiterin der Nachrichten bereitete gerade die Nachmittagsausgabe von Canal TC vor, als ihr eine Pistole an den Kopf gehalten wurde. Die nächsten 30 Minuten stand sie, zusammengekauert mit Moderatoren, Kameraleuten und weiteren Redakteuren, Todesängste aus. Immer wieder musste sie in Gewehrläufe schauen, hörte wie Kollegen, von den Gangstern dazu gezwungen, Botschaften an Präsident Daniel Noboa über den Sender schickten, er solle den Kampf gegen die Drogenbanden beenden.
Unfassbarerweise lief die Liveübertragung minutenlang weiter. Das ganze Land konnte am Fernseher mit ansehen, wie Maskierte den Journalisten offensichtlich Dynamitstangen in Taschen steckten, sie mit Macheten schlugen und immer wieder zwangen, ihre Botschaften zu verbreiten.
"Ich stehe immer noch unter Schock", sagte Manrique anschließend der Nachrichtenagentur AP. "Alles hier im Land ist am Zusammenbrechen. Für mich ist es Zeit, dieses Land zu verlassen und möglichst weit weg zu gehen."
Drogenbanden erpressen den Staat mit Terror
Die Entwicklung Ecuadors sieht auch der politische Analyst und Experte für Organisierte Kriminalität, Renato Rivera Rhon, kritisch. Für ihn steht das Land am Beginn einer Spirale der Gewalt und neuerdings auch des Terrors, der aus den Konflikten rivalisierender Drogenbanden hervorgeht. "Teil des Problems ist, dass sich das Organisierte Verbrechen zwar an den Staat richtet, aber die Bevölkerung einbezieht. Sie schicken ihre Botschaften des Schreckens an die Bürger."
Mit einem großen Schrecken, aber mit dem Leben, kamen Alina Manrique und ihre Kollegen von Canal TC davon. Nach einer halben Stunde stürmte eine Spezialeinheit das Studio und befreite die Geiseln. Die Geiselnehmer ließen sich widerstandslos abführen.
Doch am gleichen Nachmittag gab es allein in der Küstenstadt Guayaquil 20 Gewaltschauplätze, an denen die Banden Schrecken verbreiteten. Auch in der Hauptstadt Quito und in Esmeraldas im Nordwesten fielen Schüsse und es gab Geiselnahmen und Entführungen. Im Internet kursieren Videos über grausame Exekutionen von Polizisten.
Mancherorts schickten die Täter Präsident Daniel Noboa gleichzeitig die Botschaft, "mit Kartellen spielt man nicht." Ob die Videos echt sind und wirkliche Hinrichtungen zeigen, lässt sich im Moment nicht überprüfen. Auch ist der Hintergrund der Geiselnahmen nicht eindeutig erklärbar. Sicher ist es eine Machtdemonstration, doch könnte es auch sein, dass die Drogenkartelle die Polizei damit beschäftigen und anderswo ein großes Geschäft abwickeln wollten.
Der Ursprung der Gewalt liegt Jahre zurück
Bis 2009 gab es in der Küstenstadt Manta einen Luftwaffenstützpunkt der Vereinigten Staaten. Deren Anwesenheit half, die Ausbreitung der Drogenkartelle in Ecuador zu bremsen.
Ecuadors ehemaliger Präsident Raphael Correa (2007 bis 2017) kündigte den Vertrag über den Stützpunkt. In der Folge unterschätzten Noboas Vorgängerregierungen unter Lenín Moreno und Guillermo Lasso möglicherweise die Aktivitäten der Drogenkartelle.
Noboa kritisierte seine Vorgänger nach der Eskalation der Gewalt am Mittwoch mit den Worten: "Wir haben jetzt Maßnahmen ergriffen, die schon längst hätten ergriffen werden sollen, zu denen sich die vorigen Regierungen aber nicht haben entschließen wollen. Wir werden mit Waffengewalt angegriffen, deshalb ist es Zeit, sich ihnen mit Waffen entgegenzustellen."
Vielleicht die letzte Chance für Ecuador
Noboa hatte nach dem Gefängnisausbruch eines Drogenbosses am Sonntag zunächst den Ausnahmezustand mit Ausgangssperren und der Einschränkung des Versammlungsrechts über das Land verhängt. Als Reaktion darauf eskalierte am Dienstag die Lage.
Während das Geschehen im Land noch völlig unübersichtlich war, erklärte der Präsident per Dekret das Kriegsrecht. Er sprach von einem bewaffneten Konflikt im Inneren, erklärte 22 Drogenbanden als Kriegsparteien und ermächtigte das Militär, diese im Rahmen des humanitären Völkerrechts der UN zu vernichten.
Damit geht Noboa, der erst seit November im Amt ist, "All In". Er setzt der Organisierten Kriminalität alles entgegen, was sein Land an Feuerkraft zu bieten hat. Das könnte auch gleichzeitig seine einzige Chance sein, Ecuadors Drogenkrieg zu gewinnen. Die Voraussetzungen sind nicht gut.
Ein Ex-Unternehmer ohne die volle Unterstützung seiner Institutionen
Daniel Noboa war vor seiner politischen Karriere Bananen-Unternehmer. Er ist erst 36 Jahre alt, hat wenig politische Erfahrung - aber vor allem hat er kaum Zeit. Da er eine vorgezogene Wahl gewonnen hat, beträgt seine Amtszeit nur 18 Monate bis zu den nächsten Wahlen. Gewinnt er seinen Krieg, dürfte seine Wiederwahl gesichert sein, stürzt er sein Land in ein Chaos aus Gewalt und Kriminalität, wird in eineinhalb Jahren höchstwahrscheinlich ein Anderer den Kampf weiterführen - und der könnte dann möglicherweise wieder Raphael Correa heißen.
Hätte Noboa alle Staatsgewalt hinter sich, könnte der Sieg gegen die Banden leichter gelingen. Doch das Organisierte Verbrechen hat alle staatlichen Organisationen infiltriert. Polizei, Militär, Richter und Staatsanwaltschaft sind unterwandert. Korrupte Staatsdiener öffnen Drogenbaronen alle Türen, sagt der Analyst Renato Rivera Rhon und folgert daraus: "Angesichts dieser Schwäche der Institutionen ist es zumindest kurzfristig sehr unwahrscheinlich, dass der Staat Erfolg haben wird."