Libyen nach der Flut Die Kinder der Katastrophe
Sie haben Angehörige verloren, ihr Zuhause und oft auch die Hoffnung. In Libyen versuchen Helfer, den Kindern der Flutkatastrophe wieder etwas Zuversicht zu geben. Und manchmal kehrt ein Kinderlachen zurück.
Fröhliches Kinderlachen hallt über einen Vorort von Libyens Küstenstadt Darna. Dutzende Kinder toben über einen Parkplatz, sie halten sich an den Händen und tanzen. Nebenan machen Kinder einen Staffellauf mit bunten Ringen. Ein Helfer verteilt Süßigkeiten und wird von den Kindern umringt. So viel Freude hat Darna lange nicht erlebt.
Die Stadt war mal so schön, erzählt die neunjährige Rafraan. "Aber jetzt ist alles anders, jetzt ist alles zerstört", sagt sie. "Ich hatte Angst."
Dass die Kinder hier wieder lachen können, sei das Ziel der Spielaktion von ehrenamtlichen Helfern der libyschen Pfadfinder und des Roten Halbmonds, erzählt der Helfer Talal al-Aqrabi.
Am Anfang hätten sie Sorgen gehabt, das Thema Traumaarbeit anzugehen. "Aber die Reaktionen der Kinder und der Eltern sind sehr schön", sagt er. "Wir sehen, wie die Kinder hier spielen und Spaß haben. Wir motivieren sie." Die Helfer würden auch zu den Vertriebenen in die Notunterkünfte gegen, um für die Kinder eine andere Stimmung zu schaffen.
Furchtbares erlebt
Viele der Kinder haben bei der Katastrophe vor gut drei Wochen Furchtbares erlebt: Der Sturm und Regen wurden immer heftiger, die Wassermassen strömten durch die Stadt, als der Damm brach. Häuser wurden einfach weggerissen, viele der Kinder haben ihr Zuhause und Angehörige verloren.
"Ein Mädchen hat den Damm gezeichnet, der zusammengebrochen ist und das Tal überflutet hat", sagt al-Aqrabi. "Das Thema beschäftigt die Kinder immer noch sehr. Deshalb versuchen wir sie in eine andere Atmosphäre zu versetzen."
Notunterkünfte von Al-Baida
Etwa eine Autostunde entfernt von Darna liegen einige der Notunterkünfte für die Menschen, die in Darna und anderen Städten durch die Fluten ihr Zuhause verloren haben. In der Stadt Al-Baida wurden Schulen spontan zu Flüchtlingsheimen umfunktioniert - in jedem Klassenzimmer wohnt jetzt eine Familie.
So wie Iman. Sie kauert auf einer Matratze in der Ecke des Klassenzimmers der 2A. Nur knapp ist die Alleinerziehende mit ihren drei Kindern in Darna den Fluten entkommen. Die zierliche Frau beginnt zu weinen. Ihre kleine Tochter nimmt sie in den Arm. "Das Haus ist einfach zusammengebrochen", erinnert sie sich. "Nachbarn haben uns geholfen. Hier bekommen wir auch Hilfe."
Plötzlich sackt Iman in sich zusammen, sie fällt in Ohnmacht. Der Stress, die Erinnerungen waren zu viel für sie.
Helfer im libyschen Darna: Für Kinder eine gute Atmosphäre schaffen
Nichts ist ihnen geblieben
Nawara, die Nachbarin, erzählt weiter. Auch ihnen ist nichts mehr geblieben, als die Flut ihr zuhause wegspülte - sie hat es gerade noch rechtzeitig geschafft, zu fliehen. Sie schlafen auf Matratzen, die auf dem Boden liegen. Decken und Kleidung wurden gespendet. Die Wäsche versuchen sie zwischen den Gitterstäben vor den Fenstern zu trocknen. Sie haben alles verloren - und keine Ahnung, wie es weitergeht.
In der Nacht würden die Kinder schreien. "Die Flut kommt, die Flut kommt", würden sie rufen, sagt Nawara. Sie brauche kein Essen, keine Spenden. "Ich brauche nur eines: einen sicheren Ort zum Leben", sagt sie. "Wir brauchen ein Haus. Die Kinder brauchen ein Zuhause. Wir können nicht in der Schule bleiben."
Denn bald beginnt der Unterricht wieder - und dann müssen die obdachlosen Familien hier weg. Die Frauen sind verzweifelt. "Aber wo sollen wir denn hin? Wir haben nichts mehr, wo sollen wir hingehen?"
Die Wut wächst
Bei den Menschen aus Darna und Umgebung wächst die Wut auf die Behörden, auf die Politik. Viele Familien fordern staatliche Unterstützung - wohl wissend, dass es genau daran mangelt.
Das Land steckt seit Jahren im Chaos: Nach dem Sturz von Langzeitmachthaber Muammar Gaddafi herrschte in Libyen ein langjähriger Krieg, rivalisierende Milizen bekämpften sich - sämtliche diplomatische Bemühungen, Libyen zu einer Einheitsregierung und demokratischen Wahlen zu führen, scheiterten bislang. Zwei Regierungen ringen um die Macht im Land. Die Folge der andauernden Gewalt: eine massive Vernachlässigung der Bevölkerung. Die Wirtschaft ist eingebrochen, die Infrastruktur verfallen, es herrscht Korruption. Die Menschen fühlen sich vergessen.
Kinder in Libyen: Viele haben ihr Zuhause und ihre Angehörigen verloren.
Verteilungskampf um Wiederaufbauhilfen
Beide politische Lager versuchten, die Krise für sich zu instrumentalisieren. Auch wenn es nach dem Dammbrüchen Verhaftungen gegeben hat, ist fraglich, ob das mehr ist als Augenauswischerei.
Der Verteilungskampf um Wiederaufbauhilfen habe bereits begonnen, sagt Claudia Gazzini von der Crisis Group. Sie war bis vor Kurzem in Libyen. "Was ich sehe ist, dass die Rivalitäten zwischen den Behörden im Osten und im Westen jetzt bereits wieder entstehen, wenn es um die Verteilung von Wiederaufbauhilfen geht."
"Wir sehen das Hin und Her, wer den Wiederaufbau kontrollieren sollte und das finde ich so traurig," sagt sie. "Die Katastrophe ist doch gerade erst ein paar Wochen her. Und schon sind wir im Streit über Gelder."
"Darna ist eine Stadt der Geister"
Einen Wiederaufbau, den sich auch die Menschen in der Notunterkunft dringend wünschen. Nur zurück nach Darna, das wollen nicht alle. "Darna ist eine Stadt der Geister", sagt Iman, als sie aus ihrer Ohnmacht erwacht ist. "Wir haben Angst vor Darna."
Eine Angst, die vielleicht ihnen nur die Zeit nehmen kann. Und die Kinder?
Zurück auf dem Parkplatz bei Darna. Dort haben Helfer ein großes Banner ausgelegt. Mit Stiften können die Kinder von Darna malen, was ihnen auf dem Herzen liegt. Ein Mädchen malt Autos, die vom Wasser weggespült werden. Andere knien nieder und malen Darna so, wie sie die Stadt in Erinnerung haben. "Darna ist schön", schreibt ein Kind daneben. Die Kinder der Katastrophe. Spätestens sie wollen ihre Heimat, ihre Stadt irgendwann wieder aufbauen.