ARD-Umfrage in Afghanistan Zustimmung zur Gewalt steigt
Die Ergebnisse der Afghanistan-Umfrage von ARD, ABC und BBC zeichnen - zumindest auf den ersten Blick - ein überraschendes Bild: Afghanistan ist - entgegen landläufiger Meinung - weit davon entfernt, zum zweiten Irak zu werden. Allerdings: Die Unterschiede im relativ ruhigen Norden und dem hart umkämpfen Süden des Landes sind eklatant. Und das Vertrauen in Isaf und Nato schwindet.
Von Arnd Henze, WDR
Auf den ersten Blick wirken die Zahlen fast zu gut, um wahr zu sein: Eine Mehrheit der Afghanen glaubt weiter, dass das Land sich in die richtige Richtung bewegt, die Regierung von Präsident Hamid Karsai bekommt positive Werte, Deutschland genießt hohes Ansehen am Hindukusch, und selbst die USA bekommen Sympathiewerte wie sonst nur in wenigen islamischen Ländern.
Widerspricht also die repräsentative Umfrage, die das "Afghan Instiute for Social and Public Opinion Research" im Auftrag von ARD, ABC und BBC durchgeführt hat, den Einschätzungen von Medien und Hilfsorganisationen, die ein weitaus düstereres Bild von der Lage in Afghanistan zeichnen?
Eklatante Unterschiede zwischen Norden und Süden
Ihre Brisanz entfaltet die Befragung von 1377 Frauen und Männern erst beim Blick auf die extremen Unterschiede, die sich zwischen den umkämpften Provinzen im Südwesten und Osten auf der einen Seite und den vergleichsweise ruhigen Gebieten im Nordosten ergeben.
Besonders eindrücklich zeigen sich diese Gegensätze bei der Frage nach der Zukunftserwartung für die eigenen Kinder. Landesweit rechnen 51 Prozent der Afghanen damit, dass es ihre Kinder einmal besser haben werden. In der südwestlichen Provinz Kandahar, wo neben den USA vor allem kanadische Nato-Truppen gegen die wieder erstarkten Taliban kämpfen, teilen allerdings nur 18 Prozent diese Hoffnung. In Kundus, wo die Bundeswehr ein Einsatzzentrum hat, sind es dagegen 66 Prozent. Entsprechend beschreiben 70 Prozent der Befragten im Nordosten die Sicherheitslage positiv, während im Südwesten eine fast genau so deutliche Mehrheit zum gegenteiligen Urteil kommt.
Hohe Akzeptanz von Nato und Isaf
Ebenso unterschiedlich wird die Rolle der ausländischen Truppen in den verschiedenen Regionen bewertet: Stieg im Nordosten die Unterstützung für die Nato-Schutztruppe Isaf innerhalb des vergangenen Jahres von 70 auf 72 Prozent, so halbierten sich die Werte im Südwesten nahezu. Gerade noch 45 Prozent (2006: 83) unterstützen die ausländischen Soldaten. Der Grund für diesen Einbruch ist vor allem die Zunahme ziviler Opfer bei US-Angriffen.
Bemerkenswert ist allerdings, dass - anders als im Irak - nur wenige Afghanen die Anwesenheit ausländischer Truppen als solches in Frage stellen. Im Gegenteil: In vielen Gegenden werden die USA und ihre Verbündeten als zu schwach und zu wenig präsent im Kampf gegen die Taliban erlebt. Das lässt die Ungeduld mit den ausländischen Truppen wachsen - in der Frage nach einem Abzugstermin ist die Bevölkerung zunehmend gespalten.
Wachsende Sympathie für Gewalt gegen ausländische Truppen
Beunruhigend auch, dass die Zustimmung zu Anschlägen gegen US-Truppen im Südwesten von sieben auf 27 Prozent gestiegen ist - und auch im Nordosten, wo die Bundeswehr im Einsatz ist, zeigt inzwischen fast jeder fünfte Sympathie für Gewalt gegen die Isaf-Truppen. Allerdings sind diese Werte noch weit von der Situation im Irak entfernt: dort befürwortet nach einer vergleichbaren Umfrage von ARD, ABC und BBC sogar eine Mehrheit der Bevölkerung Anschläge auf fremde Truppen.
Angesichts der andauernden Kämpfe unterstützen 60 Prozent das umstrittene Angebot von Präsident Karsai, mit den Taliban zu verhandeln und sie in eine Regierung einzubinden. Überhaupt erzielt Karsai in unterschiedlichen Fragen ungewöhnlich positive Werte von jeweils mehr als 75 Prozent der Befragten. Diese Zustimmung ist allerdings vor allem mit dem Mangel an Alternativen zu erklären. Nur vier Prozent bevorzugen eine Führung durch die Taliban, auch ein Regime aus religiösen Führern findet überhaupt keinen Rückhalt in der Bevölkerung.
Gute Noten für Wiederaufbau trotz individueller Armut
Wie sich die Situation in Afghanistan weiter entwickelt, wird entscheidend von Fortschritten beim Wiederaufbau des Landes abhängen. Hier zeigt sich im Einsatzgebiet der Bundeswehr ein gemischtes Bild. Im Vergleich zu einer ähnlichen Umfrage vor einem Jahr sehen die Menschen erhebliche Fortschritte beim Bau von Straßen und Brücken, bei der Versorgung mit sauberem Wasser sowie beim Angebot an Schulen. Dagegen gibt es bei der Versorgung mit Strom und Heizöl, bei der Schaffung von Arbeitsplätzen und beim Aufbau der Polizei deutliche Rückschläge. Und besonders belastend für die Menschen ist der enorme Anstieg der Preise für Lebensmittel. 60 Prozent der Haushalte verfügen über ein Monatseinkommen von unter 100 US-Dollar.
Traditionelle Geschlechterverhältnisse ungebrochen
Gegen den landesweiten Trend hat sich im Nordosten die Situation der Frauen weiter positiv entwickelt. Vor allem in den Kampfzonen im Südwesten und Osten leiden dagegen die Frauen besonders unter dem zunehmenden Chaos.
Bei konkreten Fragen zeigen sich aber auch extreme Unterschiede zwischen Männern und Frauen sowie zwischen Stadt- und Landbevölkerung. So sind 90 Prozent der Frauen in Städten der Meinung, dass Frauen Regierungsämter übernehmen sollen - doch nur eine Minderheit der Männer sieht das ebenso. Und während 42 Prozent der weiblichen Stadtbevölkerung in den Städten die Burka ablehnen, halten 84 Prozent aller Männer an dieser Form der Verhüllung fest.
Ein weiteres kontroverses Thema der Umfrage betrifft den Drogenanbau. Das Land produziert 93 Prozent des weltweiten Rohopiums. Die Milliarden-Einnahmen finanzieren nicht zuletzt die Aufrüstung der Taliban und lokaler Warlords. Landesweit fordern 86 Prozent der Afghanen Maßnahmen der Regierung dagegen. Zugleich hält aber fast ein Drittel den Opiumanbau für legitim, solange es für die Menschen keine andere Form des Broterwerbs gibt. In den Provinzen, die besonders mit Drogenanbau zu tun haben, sind es sogar fast doppelt so viele, die diese Einschränkung machen.
Umfangreichste Studie seit Sturz der Taliban
Mit fast 100 Fragen ist die Umfrage von ARD, ABC und BBC die umfangreichste und differenzierteste Untersuchung, die seit dem Sturz der Taliban vor sechs Jahren in Afghanistan durchgeführt wurde. In ihrem Kern zeigt sie, dass die gängige These, Afghanistan entwickele sich zu einem zweiten Irak, auf das ganze Land bezogen sicher (noch) nicht haltbar ist.
Allerdings schwinden das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit von Regierung und die ausländischen Verbündeten. Und angesichts der extremen Unterschiede zwischen dem weitgehend ruhigen Nordosten und den Kampfzonen im Südwesten und Osten wird die Diskussion um die Lastenverteilung innerhalb des Isaf-Einsatzes sicher ebenso an Schärfe gewinnen wie die Frage nach der richtigen Strategie gegenüber den wieder erstarkten Taliban.