Ein Soldat der US-Marines mit Soldaten der Afghanischen Nationalen Armee (Archivbild von 2017).
Interview

Afghanistan-Experte "Abzug spielt in die Hände der Taliban"

Stand: 17.11.2020 17:30 Uhr

Afghanistan-Experte Thomas Ruttig erklärt, warum die Gewalt im Land eskaliert, obwohl die Taliban formal das US-Abkommen nicht verletzen - und was der geplante Truppenabzug für NATO und Bundeswehr bedeutet.

tagesschau.de: Die US-Regierung hat angekündigt, bis zum 15. Januar 2021 die Zahl der Soldaten in Afghanistan von 4500 auf 2500 zu reduzieren. Kann sie in zwei Monaten umsetzen, was ihr in fast vier Jahren nicht gelang?

Thomas Ruttig: Die Zahl der US-Soldaten in Afghanistan ist während der Trump-Regierung ja schon erheblich reduziert worden, genaue offizielle Zahlen zur Truppenstärke werden gar nicht mehr veröffentlicht. Ich glaube, US-Präsident Donald Trump versucht im Moment ein Zeichen zu setzen, dass er noch der Herr im Weißen Haus ist - und macht das unter anderem, indem er Truppenabzüge anweist.

2017 kam er mit dem Versprechen ins Amt, er wolle die "endlosen Kriege" beenden. Sein Militär und andere Berater haben ihn dann davon überzeugt, dass man nicht einfach die Truppen abziehen und die Tür hinter sich zumachen kann, sondern der Krieg in Afghanistan wirklich beendet werden muss - unter anderem durch Gespräche mit den Taliban. Das hat den Prozess verlangsamt; zeitweise kehrte mehr Realismus in die US-Afghanistanpolitik ein.

Militärspezialisten haben vorgerechnet, dass ein vollständiger Abzug bis Weihnachten logistisch gar nicht zu machen ist: Ausrüstung etc. müsste ausgeflogen werden - das ist so viel, dass es zeitlich nicht zu schaffen ist. Sie zurückzulassen ist keine Option, wenn sie nicht den Taliban oder globalstrategischen Rivalen in die Hände fallen soll. Und um überhaupt noch Druck auf die Taliban ausüben zu können, ihre Verpflichtungen aus dem Doha-Abkommen vom Februar zu erfüllen, muss zumindest eine begrenzte Zahl an Truppen im Land verbleiben - sonst geben die USA dieses Druckmittel auch aus der Hand.

Thomas Ruttig
Zur Person
Thomas Ruttig ist Mitbegründer des "Afghanistan Analysts Network" (AAN). Nach dem Studium in Berlin und Kabul arbeitete er zunächst im diplomatischen Dienst der DDR in Kabul und später als Journalist mit Schwerpunkt Afghanistan und Zentralasien. Zudem war er jahrelang als Mitarbeiter an UN-Missionen in Afghanistan beteiligt. Er spricht Paschtu und Dari.

tagesschau.de: Was konnte bis jetzt durch den Afghanistan-Einsatz erreicht werden - und wird durch einen Abzug aufs Spiel gesetzt?

Ruttig: Aus Sicht der afghanischen Bevölkerung gibt es da sehr unterschiedliche Auffassungen. Die Regierung und ein Teil der Menschen begrüßen die Anwesenheit von US-Truppen als stabilisierenden Faktor und Rückversicherung gegen eine erneute Machtübernahme der Taliban. Zugleich verhandeln aber die US-Regierung und die afghanische Regierung mit den Taliban, um sie in die politische Macht einzubinden. Diesen Widerspruch sehen natürlich auch viele Afghanen.

Hinzu kommt, dass die US-Truppen auch beträchtlichen Schaden in Afghanistan angerichtet haben - erst vor einigen Tagen gab es Berichte über eine mit der CIA verbundene Miliz, die erneut brutal mehrere Zivilisten umgebracht haben soll. Dadurch sind Menschen im Land, die einem Verbleib der Truppen gegenüber eigentlich positiv eingestellt sind, hin- und hergerissen: Sie sehen auch, wie viele ihrer Mitbürger getötet wurden - oft auch wahllos und ohne dass das hinterher aufgearbeitet wird. Viele Menschen in den Städten, die sich mit den neuen politischen Entwicklungen identifizieren, befürchten wiederum, dass einiges, was seit 2001 geschaffen worden ist - nämlich Verfassungsmäßigkeit, gewisse politische Freiheiten, Menschenrechte -, zumindest bedroht wäre, wenn die Taliban an der Regierung beteiligt wären. Aber auch in der afghanischen Regierung gibt es konservative Kräfte, die nicht gerade Verteidiger der universalen Menschenrechte sind. Viele befürchten, dass aus ihnen und den Taliban eine Art Koalition entsteht, die nicht mehr demokratisch wäre.

"Oft schwer zu unterscheiden, wer hinter Anschlägen steckt"

tagesschau.de: Wer wären die Profiteure des Abzugs?

Ruttig: Der spielt vor allem in die Hände der Taliban: Sie haben das Gespräch mit der US-Regierung gesucht und zugestimmt, auch mit der afghanischen Regierung zu verhandeln, weil sie die US-Truppen als größtes Hindernis für ihre Rückkehr an die Macht aus dem Land haben wollen. Sie gehen davon aus, dass nach einem vollständigen Abzug die internationale Aufmerksamkeit für Afghanistan sinken wird und sie dann ihre gesellschaftlichen Vorstellungen im Land durchsetzen können. Davor haben viele Menschen Angst: Sie befürchten, dass ihre Freiheiten und Rechte wieder beschnitten werden. Wobei die Taliban seit längerem den Eindruck zu erwecken versuchen, dass sie sich in bestimmten Positionen gemäßigt haben. Sie haben nach ihrem Sturz 2001 gelernt, dass sie nicht ohne die große Bevölkerungsmehrheit regieren können, sondern auch Kompromisse eingehen müssen - das sollte man auch anerkennen. Wie weit sie bereit sind, langfristige Zugeständnisse zu machen, muss sich in den laufenden Verhandlungen aber erst noch herausstellen.

tagesschau.de: Die Taliban müssen gemäß dem Abkommen Sicherheitsgarantien liefern, dass sich kein Terrorismus in Afghanistan mehr ausbreiten wird. Doch seit Februar gibt es immer neue Gewaltausbrüche...

Ruttig: Im Abkommen steht, dass die Taliban international agierenden Terrororganisationen - damit sind Al-Kaida und der IS gemeint - nicht die Möglichkeit geben sollen, von Afghanistan aus zu operieren und Anschläge wie den vom 11. September 2001 durchzuführen. Ob das bisher geschehen ist oder nicht, darüber gibt es unterschiedliche Auffassungen. Es steht außerdem darin, dass sie sich verpflichten, die ausländischen Truppen im Land und die Bevölkerungszentren nicht mehr anzugreifen; darunter werden die Hauptstadt Kabul und die Provinzhauptstädte verstanden. Das haben die Taliban auch nicht getan. Sie haben aber gleichzeitig die Intensität und den Umfang ihrer Operationen außerhalb städtischer Zentren in den vergangenen Monaten erhöht. Aber formal verletzen sie dieses Abkommen nicht - es untersagt zum Beispiel auch nicht, dass die Taliban die afghanischen Streitkräfte angreifen.

Mordanschläge auf Soldaten, Polizisten, zivile Regierungsmitarbeiter in den Städten, die wir als Terrorangriffe definieren würden, sind in Kabul und anderen Großstädten aber fast an der Tagesordnung; die Taliban bekennen sich aber häufig nicht dazu. Das ruft in der afghanischen Regierung und Teilen der Bevölkerung große Zweifel daran hervor, ob sie überhaupt an Frieden interessiert sind. Hinzu kommt, dass auch der IS in Afghanistan aktiv ist. Er ist aber keine Verhandlungspartei in Doha. Oft ist schwer zu unterscheiden, wer hinter Anschlägen steckt und welche Schuldzuweisungen bloße Propaganda sind.

Wiederaufstockung der US-Truppen nicht ausgeschlossen

tagesschau.de: Welche Folgen hat der US-Abzug für die verbleibenden Soldaten? Die NATO machte zuletzt deutlich, dass sie sich weiterhin der Sicherheit in Afghanistan verpflichtet fühlt. Aber ohne die USA wird ein Engagement vor Ort kaum zu halten sein.

Ruttig: Die NATO hat immer erklärt, dass die Bündnispartner gemeinsam in den Afghanistan-Einsatz gegangen sind und genauso gemeinsam wieder das Land verlassen werden. So ist es auch im US-Taliban-Abkommen vereinbart. Das hat auch logistisch-technische Hintergründe. Denn tatsächlich können die Einheiten anderer NATO-Partner wie die Bundeswehr häufig gar nicht ohne US-amerikanische Unterstützung agieren: Da geht es um Luftunterstützung, medizinische Evakuierungen, nachrichtendienstliche Informationsbeschaffung. Logistikkommandos der Bundeswehr sind schon vor Ort, um den Abzug zu planen und durchzuführen.

tagesschau.de: Angenommen, Trump kann seine Pläne noch vor der Inauguration des nächsten US-Präsidenten umsetzen - bleibt es dann dabei?

Ruttig: Die verbliebenen 4500 Soldaten sind ja schon sehr wenige: Gegen Ende der Regierungszeit von US-Präsident Barack Obama waren noch 140.000 westliche Soldaten in Afghanistan. Der kritische Punkt war also schon 2016, als die ISAF-Mission endete und die meisten Soldaten abgezogen wurden. Wenn die Taliban nun ihre Verpflichtungen aus dem Abkommen mit den USA nicht umsetzen, könnte Joe Biden als US-Präsident diesen Abzug stoppen. Ich glaube, es kann sogar nicht ausgeschlossen werden, dass die Truppenstärke zumindest zeitweilig wieder erhöht wird. Eine solche Entscheidung wäre nicht sehr populär, auch nicht in den USA. Aber wenn die seit September stattfindenden Verhandlungen zwischen afghanischer Regierung und Taliban nicht vorwärts kommen, steht irgendwann auch das Abkommen zwischen USA und Taliban in Frage. Die afghanische Regierung könnte dann NATO und USA um Hilfe bitten.

Der Einsatz wird aber nie wieder so groß werden, wie er noch vor einem Jahr war. Man sieht ja auch, dass man auch mit einigen Tausend Soldaten die Streitkräfte Afghanistans so unterstützen kann, dass die Taliban nicht zu einem endgültigen militärischen Sieg in der Lage sind. Die UN sprechen von einem "erodierenden Patt": Große Städte militärisch erobern können die Taliban derzeit nicht, ihre Kontrolle über weite Teile des Landes haben sie aber ausgedehnt.

Das Gespräch führte Jasper Steinlein, tagesschau.de.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete MDR aktuell am 17. November 2020 um 16:39 Uhr.