Interview mit ägyptischer Soziologin "Es ist gefährlich, wenn das System bestehen bleibt"
Die Übergabe der Macht an Vizepräsident Suleiman reicht nach Ansicht der ägyptischen Soziologin Abaza für einen Wandel in Ägypten nicht aus. Sie warnt im Interview mit tagesschau.de vor den Gefahren, die vom bestehenden System ausgehen, und spricht über ihre Hoffnungen, die sie in die Armee setzt.
tagesschau.de: Ist der gewünschte Wandel in Ägypten mit Omar Suleiman und der neuen Regierung zu erreichen?
Mona Abaza: Nein, denn Suleiman ist ein Mann der Regierung. Was im Moment passiert, ist ein Spiel auf Zeit, um wieder mehr Kontrolle über die Demonstranten zu gewinnen und eventuell erneut Gewalt auszuüben. Aber das führt nicht dazu, dass weniger Menschen zu den Demonstrationen kommen, ganz im Gegenteil: Überall gibt es Streiks, Forderungen nach höheren Gehältern, es kommt zu Übergriffen. Gefährlich ist es dort, wo das Fernsehen nicht vor Ort ist, denn die Polizei ist schon immer sehr gewalttätig gewesen und bleibt es auch jetzt.
Mona Abaza ist Professorin für Soziologie an der American University in Kairo mit einer Gastprofessur für Islamwissenschaft an der Universität Lund in Schweden. Sie ist in Kairo geboren und hat dort seit Januar die Entwicklungen am Tahrir-Platz aus nächster Nähe beobachtet.
tagesschau.de: Suleiman ist gegen einen abrupten Wechsel, da es dann seiner Befürchtung nach zu Chaos kommen würde. Wie schätzen Sie das ein?
Abaza: Das Chaos wurde von Mubarak selbst gemacht, nicht von den Demonstranten. Er wollte die revoltierenden Leute bestrafen, indem er die Banken schließt und das Internet- und Handy-Netz lahmlegt. Er wollte zeigen: Schaut her, wenn Mubarak weg ist, dann wird es chaotisch. Er versucht damit, die Revolution zu unterlaufen, aber erreicht hat er das Gegenteil. Die Stimmung und die Organisation auf dem Tahrir-Platz sind einfach einmalig und unglaublich, es ist eine richtige Revolution. Es sind alle Schichten vertreten, darunter Musiker, Dichter, Intellektuelle, Richter, Diplomaten, Minister, Straßenkinder. Alle stehen zusammen und es ist ein bisschen wie beim Woodstock-Festival, nur dass ständig die Gefahr besteht, dass es wieder zu Gewalt kommt. Auf dem Tahrir-Platz habe ich Menschen kennengelernt, die wirklich bereit sind, bis zum Ende zu gehen und zu sterben. Das Ganze ist angestoßen und es gibt keine Möglichkeit mehr, es aufzuhalten.
tagesschau.de: Was fehlt der Revolution im Moment zum Erfolg?
Abaza: Sie braucht unbedingt die Unterstützung aus dem Ausland, vor allem der internationalen Presse, die weiterhin vor Ort sein muss. Wir sagen zwar, wir wollen die Veränderungen von innen heraus schaffen, ohne das Eingreifen der Amerikaner, aber die Gefahr könnte immer sein, dass das Militär durchgreift: Man sagt zwar, es wird kein neues Massaker wie auf dem Tiananmen-Platz geben, aber bei mir bleibt die Angst bestehen, dass das sehr einfach kippen könnte.
Ein Problem ist sicherlich die fehlende Revolutionsführung: Die Demonstranten sind alles sehr junge Leute. Viele von ihnen haben in den USA studiert, es sind Kinder der westlichen Welt. Gerade deswegen bräuchten sie so sehr die Unterstützung von Obama.
Für mich ist die Stimmung der Revolution in Ägypten vergleichbar mit der während der 68er-Revolution. Die jungen Leute haben jetzt einen gemeinsamen Feind und vielleicht kommt die Führung, wenn der Feind besiegt ist. Dass es keine Führung gibt, ist einmalig in der Geschichte. Bei allen anderen Revolutionen gab es bislang immer in irgendeiner Art eine Partei, die die Führung übernehmen konnte.
tagesschau.de: Wer wäre eine geeignete Führungspersönlichkeit für die Protestbewegung?
Abaza: Viele sind gegen Mohammed ElBaradei, den ehemaligen Generaldirektor der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), weil er ihrer Ansicht nach eine Karte ist, die von den Amerikanern gespielt wird. Der junge Google-Manager Wael Ghonim wäre eine Möglichkeit. Es gibt unter den jungen Leuten mehrere Gruppierungen, die danach die Führung übernehmen könnten: Menschenrechtler, Blogger, usw. Die Muslimbrüder haben bei der Revolution bislang eine ganz geringe Rolle gespielt. Sie sind zwar da, aber sie sind auf dem Tahrir-Platz und bei den Demonstrationen in der Minderheit. Die Demonstrationen sind in keiner Weise ideologisch, sondern eine nationale Einheit gegen Mubarak.
tagesschau.de: Gibt es Reformwillige innerhalb der Regierung?
Abaza: Es gab eine Zeit, in der ich dachte, dass man der Regierung gegenüber Zugeständnisse machen könnte. Seitdem ich aber die Gewalt auf dem Tahrir-Platz miterlebt habe, bin ich mir nicht mehr sicher. Zugeständnisse bedeuten für die Regierung Zeitgewinn und den werden sie dazu nutzen, am Ende wieder gegen die Demonstranten vorzugehen. Amr Mussa, der Chef der Arabischen Liga, ist vielleicht sauberer als die anderen. Er hat am vergangenen Freitag mit den Demonstranten gebetet und gezeigt, dass er auf der Seite der Revolution steht. Das könnte eine Möglichkeit sein, aber das ist meine Meinung. Andere sind der Ansicht, dass man ganz neu beginnen müsste. Dafür spricht, dass die Regierung sehr korrupt und mit solch einem riesigen Polizei- und Geheimdienstapparat ausgestattet ist, dass es gefährlich wäre, wenn das System so bestehen bliebe.
tagesschau.de: Welche Bedeutung kommt der Armee bei diesem Wandel zu?
Abaza: Ägypten war und ist eine Militärgesellschaft, und die moderne Gesellschaft wurde mit der Armee gebaut. Das macht die Situation im Moment kompliziert. Insgesamt ist die Armee ein großes Rätsel. Man kann nur hoffen, dass die Armee keine Einheit ist und dass die jüngeren Leute in der Armee, die unteren Dienstgrade, auf Seiten der Demonstranten stehen. Es soll aber sehr viele Generäle geben, die gleichzeitig Unternehmer sind, die Armee soll sehr eng mit der neoliberalen Wirtschaftselite verknüpft sein. Und viele dieser Leute sind abhängig von Mubarak.
tagesschau.de: Welche Vision haben Sie für die Zukunft Ägyptens?
Abaza: Ich würde vorschlagen, dass die Leute, die in der Zivilgesellschaft eine Stimme haben, die Regierung übernehmen. Parteien sind ein Problem, aber das sind sie in ganz Europa, auch in Deutschland, sie haben ihre Glaubwürdigkeit verloren. Deswegen muss man vielleicht von Bewegungen oder Gruppierungen sprechen. Die Frage ist, wird die Armee gemeinsam mit der Zivilgesellschaft eine Lösung finden?
Das Interview führte Barbara Jung für tagesschau.de