Artistin Alexia aus Westerheim

Lernen auf Achse: Wie kommt die Schule zu Zirkuskindern?

Stand

Von Autor/in Isabella Hafner

Alexia aus Westerheim ist die Hälfte des Jahres auf Reisen. Die Schulen wechseln so oft wie die Orte, wo sie gastiert. Aber ein speziell ausgebildeter Lehrer lotst sie durchs Schulleben.

Gerade lebt Zirkuskind Alexia Böhm noch im Winterquartier in Westerheim im Alb-Donau-Kreis. Zur Schule geht sie zur Zeit im benachbarten Laichingen. Bald aber geht’s wieder los: verschiedene Orte, Menschen, Schulen. Und Alexia steckt im Prüfungsstress. Beides unter einen Hut zu kriegen, Artistinnenleben und Schule, das ist eine Herausforderung.

Balanceakt: Jungartistin und Schülerin Alexia

Die 14-jährige Alexia balanciert vor ihrem elterlichen Wohnwagen auf einer großen Kugel eine Wippe hinauf. Sie ist konzentriert. Die achtjährige Schwester Adriana schaut ihr genau auf die Füße. Uuuund, die Wippe kippt, die Kugel wird schneller. Aber Alexia beherrscht sie. Wenn es jetzt wieder auf Tour geht, dann tritt Alexia als Kugelläuferin auf. Aber sie hat auch Jonglage-Nummern und Drahtseil-Akte drauf. Angst habe sie keine, sagt sie. Verletzt habe sie sich bisher nur beim Skateboard-Fahren - bei ihrem "Job" habe sie sich nur mal was verstaucht. Dann beginnt sie plötzlich, mit Äpfeln zu jonglieren.

Alexia übt Jonglieren.
Alexia tritt mit Jonglage auf, aber auch mit Kugellauf und anderer Artistik.

Den Zirkus ihrer Familie gibt es schon in siebter Generation. Unter dem Namen "Ulmer Weihnachtscircus" ist die Familie vor allem in Süddeutschland unterwegs. Aber auch als Schausteller sind sie auf Tour, etwa mit nostalgischem Kettenkarussell, Badewagen und Crèpesstand.

Spezieller Unterricht für "Kinder und Jugendliche beruflich Reisender"

Zirkuskinder heißen in bestem Behördendeutsch: "Kinder und Jugendliche beruflich Reisender". Damit die Schule für sie nicht zu kurz kommt, gibt es Menschen wie Christian Gurgau. Er ist Bereichslehrer im Gebiet Ulm/Alb-Donau-Kreis/Biberach für genau solche Kinder und Jugendliche. Der ausgebildete Grund- und Hauptschullehrer ist verbeamtet und fand vor sieben Jahren die Stellenausschreibung zum Bereichslehrer "ganz exotisch" und interessant. Seither ist es sein Job, Kinder und Jugendliche wie Alexia durchs Schulleben zu lotsen.

Bereichslehrer Christian Gurgau hilft Alexia beim Lernen. Wie hier, vor Ort im Wohnwagen.
Bereichslehrer Christian Gurgau hilft Alexia beim Lernen. Er unterstützt sie vor Ort, telefonisch und digital. Egal, wo sie gerade auf Tour ist. Dabei hilft ein digitales Lernprogramm des Landes Baden-Württemberg.

Am Anfang jedes Schuljahres erstellt er mit Alexias Schule daheim in Laichingen (Alb-Donau-Kreis) ein Lernpaket. Damit sie den gesamten Stoff des Jahres auf jeden Fall hat - egal, an welchem Ort sie gerade ist.

So einen Lehrer hätte sich Alexias Mama Jessica Heppenheimer früher auch gewünscht: "Wenn du auf dem Volksfest warst, dann bist du in die Schule gegangen, ganz egal, wo du halt gerade warst, und hast einfach mitgemacht. Manchmal warst du halt besser, weil du den Stoff vielleicht schon dreimal gemacht hast, in manchem warst du halt nicht so gut." Dann habe der Lehrer nochmal erklären müssen, wie's gehe.

Es gibt schon Fälle, da haben es die Kinder nicht so leicht und die werden auch nicht immer positiv begrüßt.

Solche ungeplanten Wiederholungen können bei Alexia nicht passieren. Sie arbeitet ihr Lernpaket ab, macht dazwischen im Unterricht mit und ist in ständigem Kontakt mit Christian Gurgau. Er ist auch so eine Art Vermittler zwischen Zirkusfamilien und Schulen. Zwar läuft bei Alexia meistens alles glatt, aber er sagt auch: "Es gibt schon Fälle, da haben es die Kinder nicht so leicht und die werden auch nicht immer positiv begrüßt. Man kann sich vorstellen, jede Schule ist unterschiedlich, jedes Kind ist unterschiedlich."

Nicht überall werden Zirkuskinder fröhlich empfangen

Für ihn heißt das, er fährt dann an die Schule und klärt Probleme. Etwa wenn soziale Spannungen auftreten. Oder die Klassenlehrer überfordert sind, weil in die überfüllte Klasse nun auch noch ein Zirkuskind gesteckt wird, um das man sich gesondert kümmern muss. Dann schaut er beispielsweise, dass die Schülerin oder der Schüler in eine kleinere Klasse oder gar die Schule wechseln kann. Christian Gurgau unterstützt Alexia auch regelmäßig beim Lernen am Nachmittag: vor Ort, digital oder per Telefon.

An diesem Tag freut er sich mit seiner Schülerin. Denn sie hat in ihrer Kommunikationsprüfung eine gute Note bekommen. Aber er hatte es auch nicht anders erwartet. Denn Alexia lerne ziemlich viel. Jetzt stehen noch Englisch, Mathe und Deutsch an. In Mathe muss er ihr heute nochmal den Satz des Pythagoras erklären.

Freikarten für neue Freunde

Ständig eine neue Schule, das bedeutet auch: ständig neue Freunde finden - Freunde auf Zeit. Und die wollen Alexias Kunststücke sehen. Sie erzählt: "Also wenn die sagen, führ' mal was vor, dann sag' ich: Komm doch gerne in meinen Zirkus. Ich gebe ihnen auch Freikarten - vor allem, wenn die sich direkt mit mir anfreunden."

Alexia zeigt ihr "Jugendzimmer", das Innenleben ihres Campingwagens.
Alexia hat neuerdings ein "Jugendzimmer". Im Campingwagen.

Das Leben auf Achse ist eben etwas Besonderes. Ihr eigenes Jugendzimmer hat sie trotzdem. Alexia hat ihren Campingwagen neben dem elterlichen Wohnwagen stehen. Und drinnen sieht es aus wie bei vielen Mädchen ihres Alters: Parfums, Taschen, Kuscheltiere - und ein Schminktisch. In diesem Fall recht präsent innerhalb der paar Quadratmeter Wohnwagen. Hier schminkt sich schließlich ein junges Mädchen auch für ihren Job: ihre Auftritte in der Manege.

Das Leben im Wohnwagen gefalle ihr gut, sagt sie. "Ich bin mein ganzes Leben in so einem Wohnwagen aufgewachsen, ich kenn' es auch nicht anders. Wir waren nie in einem Haus, außer im Urlaub." Die meisten Menschen wohnen in einem Haus und machen Urlaub im Camper - bei Alexia ist das halt umgekehrt.

Die Zirkusfamilie BöhmMendesHeppenheimer sitzt beim Mittagessen um den gemeinsamen Tisch im Wohnwagen
Fast wie eine normale Familie: Zusammen, auf der Eckbank um den Tisch, Spaghetti Bolognese und Salat essen. Nur eben auf ein paar Quadratmetern im Wohnwagen.

Ich habe schon meine Fans und das freut mich sehr.

Demnächst hat Alexia ihren Werkrealabschluss in der Tasche. Wie soll's danach weitergehen? Wird sie ihr Leben in der Manege gegen einen soliden Bürojob eintauschen? Ihre Mutter sagt: "Ich hätte mir ja so gern Steuerberaterin gewünscht, weil ich hasse Büroarbeit. Aber nix war’s. Da hat sie Praktikum gemacht, des hat ihr…" Die Tochter unterbricht sie: "Das war das Schlimmste, was ich je gemacht hab'." Aber der Papa stellt klar: "Alexia wird eine Ausbildung machen. Was sie dann später macht - ob sie Artistin wird oder Kauffrau oder Tierarzthelferin - das kann sie dann selber entscheiden."

Für Schausteller gibt es eine extra Berufsschule, die in Berufen ausbildet, die im Zirkus gebraucht werden, zum Beispiel in BWL, Elektrotechnik und Schweißen. Für Alexia ist die Entscheidung aber eh schon klar: "Artistin!"

Alexia als kleine Zirkusprinzessin.
Alexia als kleine Zirkusprinzessin. Mit fünf Jahren hatte sie ihre ersten Auftritte.

Denn: "Das war schon immer mein Traum und das Schönste, was es gab für mich. Auch schon, als ich kleiner war. Alle schauen auf einen. Jetzt will schon öfter jemand mit mir ein Foto machen, ich hab' schon meine Fans und das freut mich sehr."

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